Von Tahará zu Keduschá

Zur Definition des Begriffs der Reinheit1

Das Judentum ist in seinen religiösen und kulturellen Aspekten sehr relevant für unsere heutige Zeit. Jedoch ist es nicht so einfach, das Judentum zu verstehen und in unserer modernen Welt anzuwenden, da unsere Religion im Orient offenbart wurde und viele ihrer Begriffe recht schwierig zu beschreiben sind, wenn wir uns auf westliche Begriffsmodelle beschränken.

Zu diesen Begriffen, die bisher nicht besonders gut ins Deutsche über­setzt worden sind, gehören tamé’ und tahór und die zugehörigen Substantive Tum’á und Tahará. Üblicherweise werden sie mit „unrein“ und „rein“ bzw. „Unreinheit“ und „Reinheit“ wiedergegeben.

Vielen ist die Pflicht der jüdischen Frauen bekannt, regelmässig in die Mikwè zu gehen, um wieder tahór zu werden. Weniger bekannt ist, dass eine solche Pflicht auch für Männer besteht, wenngleich natürlich aus anderen Gründen. Manche Männer gehen auch öfter in eine Mikwè, vor allem vor Rosch ha-Schaná und Jom Kippúr oder sogar vor jedem Feiertag, und manche gehen jeden Freitag. Auch ich gehe öfter zur Mikwè und muss Ihnen sagen, dass ich mich vor der Mikwè nicht unreiner fühle und nachher nicht reiner. Ein Bad ist ein Bad, eine Dusche ist eine Dusche, und eine Mikwè hat eher wenig mit diesen Dingen zu tun.

Wie sollen wir dann die Begriffe Tum’á und Tahará ins Deutsche übersetzen? Manche fügen da ein Adjektiv hinzu und sprechen von „ritueller Unreinheit“ und „ritueller Reinheit“. Das ist zwar besser, aber nicht gut genug.

Mir scheint, dass unsere Unfähigkeit, diese Begriffe befriedigend zu übersetzen, von der Unfähigkeit der westlichen Kulturen herrührt, Tum’á und Tahará zu beobachten, da Tahará eng mit der erfahrungs­bezogenen jüdischen Definition von Keduschá, Heiligkeit verbunden ist.

Das Adjektiv erfahrungsbezogen, das ich jetzt benutzt habe, ist schon etwas Neues, wenn wir von Heiligkeit sprechen. Wenn man von Heiligkeit spricht, denken viele an einen Heiligenschein, etwas Göttliches, das rund um den Menschen schwebt. Demgegenüber versteht das Judentum unter Heiligkeit einen Erfahrungszustand, die Erfahrung der Nähe zu Gott.

Tahará ist sehr eng mit Keduschá verbunden. Wir finden immer wieder Menschen, die mit Heiligkeit experimentieren, ohne sich der Tahará bewusst zu sein. So lesen wir in der populären Presse über Madonnas Beschäftigung mit Kabbalá, der jüdischen Mystik. Man kann ein bisschen lachen, wenn man sich fragt, wie eine bekannte und eher nicht sehr religiöse Sängerin dazu kommt, sich für die jüdische Lehre zu interessieren. Ich habe jedoch eine andere Frage. Als einige Fans wissen wollten, ob Madonnas Konzerte sich inhaltlich verändern würden, sagte ihr Pressesprecher klar und deutlich, dass ihre Kabbalá nicht auf die Bühne kommt. Auf der Bühne bleibt Madonna wie bisher das bekannte „Material Girl“. Das zeigt, dass die mystische Lehre für die Sängerin keine praktischen Folgen hat, also von der Realität getrennt ist.

Der Jude begrenzt Heiligkeit aber nicht auf einen Besuch in der Synagoge, er lebt die Heiligkeit. Nicht alle Juden leben diese Heiligkeit mit der gleichen Intensität, aber sie leben sie doch.

Für uns ist die Spiritualität nicht ein Beruhigungsmittel oder eine Art Joga, um die Nerven zu beruhigen. Spiritualität ist eine echte Berei­cherung des Lebens, etwas, was sich nicht in einer Schachtel weglegen lässt und in seinem Einfluss auf die Gebetszeiten beschränkt ist. Sobald die Seele durch die geistige Kraft berührt wurde, ist sie in einer gesunden Unruhe, die unser ganzes Leben beeinflusst.

Um unserer Spiritualität Lebenskraft zu geben, sollte Tahará sich vor Keduschá entfalten. Tahará ist das Erreichen der Heiligkeitsreife, einer Bereitschaft, heilig zu werden. Tum’á ist der Zustand einer gewissen Unreife für Spiritualität. Die Torá ist sich bewusst, welch gewaltige Fähigkeiten der Mensch hat, spirituelle Höhepunkte zu erreichen. Sie ist sich aber auch bewusst, dass wir nicht immer rund um diese Höhepunkte schweben können. (Zu beachten ist, dass wir schweben, nicht die Heiligkeit – weil wir es nicht mit einem Heiligenschein zu tun haben, sondern mit einer erfahrungsbezogenen Definition von Heiligkeit.) Daher sieht die Torá auch den Wechsel zum Zustand von Tum’á vor.

Die Torá ist sogar noch realistischer, indem sie verschiedene Arten von Tum’á kennt und uns so die Möglichkeit gibt, uns nicht nur an den Extrempunkten des Tum’á-Tahará-Kontinuums zu befinden, sondern auch irgendwo in der Mitte, von wo aus wir versuchen können, uns auf eine höhere Ebene der Heiligkeit zu bringen.

Kommen wir noch einmal auf die Männer zurück, die öfter in die Mikwè gehen. Man wird nicht rein in einer Mikwè, dazu dient die Dusche. Es ist aber eine erfahrungsbezogene Handlung, durch die wir eine zeitweilige Unfähigkeit zur Heiligkeit verlassen und uns für eine gewisse Heiligkeit bereit machen.

In diesem Sinn ist es auch bemerkenswert, dass eine jüdische Frau die Mikwè genau dann besuchen soll, wenn sie sich auf die Vereinigung mit ihrem Ehemann vorbereitet. Eheliche Beziehungen gehören zur Welt des Geistes, sie können den Menschen auf die höhere Ebene bringen. Unsere Vorstellung von ehelichen Beziehungen ist so fern von der christlichen und westlichen wie der Osten vom Westen, כִּרְחוֹק מִזְרָח מִמַּעֲרָב (Tehillím 103:12).

Da Heiligkeit so eng mit Tahará verbunden ist, sei hier ein Aufsatz von R’ Dr. Norman Lamm, dem ehemaligen Präsidenten und heutigen Kanzler der Yeshiva University in New York, auszugsweise zitiert:

In welcher Beziehung steht Zeni‘út zu Keduschá? Am besten beginne ich damit, eine Erklärung zu zitieren, die ich von meinem berühmten verstorbenen Lehrer und Mentor, R’ Joseph B. Soloveitchik, sécher zaddík liwrachá, gehört habe. Der Rav, wie man ihn nannte, bietet uns eine sehr treffende Einsicht: Keduschá gedeiht in He’elám, in Verborgenheit, im Dunkel, nicht be-gilúj, in der Öffentlichkeit. […] Zum Beispiel ist für das Judentum der heiligste Ort auf der Welt das Kódesch ha-Kodaschím, das Allerheiligste im Bejt ha-Mikdásch, dem Tempel in Jerusalem. Beim Tempeldienst war der heiligste Mensch auf der Welt der Kohén Gadól, der Hohepriester. Und der heiligste Tag im Jahr ist Jom Kippúr. Niemand darf das innere Sanctum des Allerheiligsten betreten, ausser dem Kohén Gadól an Jom Kippúr. […] Man könnte meinen, wenn Keduschá so wichtig ist, sollten wir darauf bestehen, dass Massen von Juden kommen, mit grossem Pomp den Tempel füllen und zum Kódesch ha-Kodaschím marschieren, um an dieser phänomenalen Konzentration von Heiligkeit teilzuhaben. Aber das ist überhaupt nicht so – weil Keduschá in der Gegenwart von Massen nicht gedeiht. Sie gedeiht nicht unter den Blicken vieler, in der Öffentlichkeit, in Enthüllung, in Entblössung. Vielmehr ist gerade das Gegenteil von Entblössung, nämlich Verborgenheit, die natürliche Umgebung von Keduschá. Heiligkeit wächst in den unaufdringlichen Nischen der Seele, nicht auf der Bühne der öffentlichen Persönlichkeit eines Menschen. […]

Die zweite Dimension von Zeni‘út ist mit der Erfahrung von Kawód verbunden, was man üblicherweise als „Ruhm“, „Ehre“ oder „Respekt“ übersetzt. Aber „Würde“ ist eine bessere Über­setzung. […] Ein Mensch muss ein Gefühl von Selbstachtung haben, ein Bewusstsein für seinen eigenen Wert. Die Quelle dieser menschlichen Würde ist Ha-Kadósch barúch Hu, von dem wir sagen kewód Elokím hastér dawár (Mischléj 25:2), die Würde Gottes liegt im Verborgenen. Wie Keduschá gedeiht Würde in hastér dawár, im Dunkel, im Verhüllung und nicht in Ent­blössung. Das gilt auch für den Menschen […]. Wenn ein Mensch Kawód, ein Gefühl von Würde, hat, wird er damit auf eine Weise umgehen, die mit Zeni’út vereinbar ist. […] Wenn du jemanden triffst, der immer angibt, immer von seinen eigenen Leistungen spricht […], weisst du intuitiv, dass du gerade jemandem begegnet bist, der sich selbst verachtet. Ein solcher Mensch kompensiert normalerweise sein schlechtes Bild von sich selbst, indem er dir erzählt, wie gross und überlegen er ist. (“Tzeniut: A Universal Concept”, in: Marc D. Angel, ed., Haham Gaon Memorial Volume, New York: Sepher-Hermon Press 1997)

1Begrüssungswort zum Anlass „Die Mikwè“, 16. Mai 2004

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