Die rechtschaffenen Frauen in Ägypten1
Je zahlreicher unsere Vorfahren in Ägypten wurden, umso mehr wurden sie von den Ägyptern unterjocht und unterdrückt. Das gipfelte in den berüchtigten Anweisungen des Par‘ó an die Hebammen und später an alle Ägypter:
וַיֹּאמֶר בְּיַלֶּדְכֶן אֶת־הָעִבְרִיּוֹת וּרְאִיתֶן עַל־הָאָבְנָיִם אִם־בֵּן הוּא וַהֲמִתֶּן אֹתוֹ וְאִם־בַּת הִיא וָחָיָה׃
Und er sagte: Wenn ihr die Hebräerinnen entbindet, so sollt ihr auf den Geburtsstuhl achten; wenn es ein Sohn ist, so sollt ihr ihn töten, und wenn es eine Tochter ist, so mag sie leben. (Schemót 1:16)
וַיְצַו פַּרְעֹה לְכָל־עַמּוֹלֵאמֹר כָּל־הַבֵּן הַיִּלֹּוד הַיְאֹרָה תַּשְׁלִיכֻהוּ וְכָל־הַבַּת תְּחַיּוּן׃
Da gebot der Par‘ó seinem ganzen Volk: Jeden neugeborenen Sohn sollt ihr in den Fluss [Nil] werfen, und jede Tochter mögt ihr leben lassen. (Schemót 1:22)
Warum wollte der Par‘ó die Jungen töten und die Mädchen am Leben lassen? Wenn er ‘Am Jissrael auslöschen wollte, welchen Sinn hatte es, die Mädchen am Leben zu lassen?
Laut Raschis Erklärung hatten die Astrologen des Par‘ó vorausgesehen, dass in Kürze der Retter von ‘Am Jissra’él (Moschè) geboren werden sollte. Deshalb wurde der Par‘ó so grausam: Er versuchte, diesen Retter zu töten, eher er erwachsen wurde. Unter dieser Annahme sollte der Befehl zur Tötung aller männlichen Kinder nur kurze Zeit gelten – bis die Astrologen verkündeten, dass die Bedrohung vorbei war.
Rabbi Chajím Ibn ‘Atár nennt in seinem Kommentar Or ha-Chajím einen anderen Grund. Der Par‘ó hatte sehr wohl die Absicht, sein Dekret für lange Zeit in Kraft zu lassen, um langsam eine Situation zu schaffen, in der es einen Überschuss an jüdischen Frauen gab und kaum jüdische Männer, die sie heiraten konnten. Diese Frauen würden dann mit hoher Wahrscheinlichkeit Ägypter heiraten.
Mit seinem Dekret verfolgte der Par‘ó offensichtlich die Absicht, ‘Am Jissra’él auszurotten. Aber war das auf diese Weise zu erreichen? Selbst wenn viele jüdische Frauen schliesslich Ägypter heiraten, ist doch ein Kind aus einer solchen Verbindung zweifellos jüdisch? War bei diesem schlecht durchdachten Plan das Überleben von ‘Am Jissra’él nicht garantiert?
Der Or ha-Chajím widerspricht dieser Vorstellung. Selbst wenn ein Kind einer jüdischen Frau aus einer Mischehe jüdisch ist, hätte die erfolgreiche Umsetzung der Anordnungen des Par‘ó das Ende von ‘Am Jissra’él bedeutet. Denn wenn die Frauen mit den Einheimischen Familien gegründet und sich ganz integriert hätten, hätten sie ihre besondere Identität nicht beibehalten können. Es hätte also zwar Juden, aber keinen Auszug aus Ägypten gegeben, keine Offenbarung am Sináj – und kein jüdisches Volk.2
Raschi zitiert die Annahme, dass sich vier Fünftel von ‘Am Jissra’él weigerten, Ägypten zu verlassen.3 Wenn das schon so war, obwohl die Pläne des Par‘ó vereitelt wurden, wie schlimm wäre es erst gewesen, wenn er Erfolg gehabt hätte!
Unsere Vorfahren waren jedoch höchst prinzipientreu, und die Frauen spielten dabei eine entscheidende Rolle.
In Schir ha-Schirím wird die Geliebte, die ein Symbol für das Volk Israel ist, mit den Worten gelobt:
גַּן נָעוּל אֲחֹתִי כַלָּה גַּל נָעוּל מַעְיָן חָתוּם
Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut, ein verschlossener Brunnen, eine versiegelte Quelle. (4:12)
Der Midrásch kommentiert:
רב הונא בשם בר קפרא אמר: בזכות ארבעה דברים נגאלו ישראל ממצרים, שלא שינו את שמם, ולא שינו את לשונם, ולא אמרו לשון הרע, ולא נמצא בהם אחד פרוץ בערוה
Raw Huna lehrte im Namen von Bar Kapará: Dank vier Dingen wurde Israel aus Ägypten befreit – dass sie ihre Namen nicht änderten, dass sie ihre Sprache nicht änderten, dass sie keine üble Nachrede führten und dass unter ihnen keiner sexuell freizügig war. (Schir ha-Schirim Rabba 4:25, Pesiqta de-Raw Kahana 11:7)
Was symbolisieren der verschlossene Garten und die versiegelte Quelle? Die Zurückhaltung unserer Vorfahren von der sexuellen Freizügigkeit – und hoffentlich auch unsere Zurückhaltung. Sie strebten nach den Prinzipien der Keduschá (Heiligkeit) und Tahará (Reinheit) zu leben – mögen auch wir nach diesen Prinzipien leben.
Fussnoten
1Predigt zum 1. Tag Pèssach 5768 (20. April ’08)
2Selbst wenn ein Kind jüdisch ist und es zweifellos dem jüdischen Volk angehört, hat es ein Bedürfnis für eine Zuhause mit zwei jüdischen Eltern. Sonst ist es leider statistisch unwahrscheinlich, dass es sich klar als Jude identifiziert, geschweige denn als Jude lebt. Die Bemerkung des Or ha-Chajíms ist statistischer Art. Klar, es gibt Juden, die in unterschiedlichsten Umständen aufwuchsen und ein sehr jüdisch geprägtes Leben führen. Statistisch geht es hier aber um eine motivierte, mutige Minderheit.
3Dabei wird וַחֲמֻשִׁים עָלוּ בְנֵי־יִשְׂרָאֵל מֵאֶרֶץ מִצְרָיִם (Schemót 13:18) als „und die Kinder Israels verliessen Ägypten gefünft“ verstanden (die übliche Übersetzung lautet bewaffnet), d.h. nur ein Fünftel von ihnen verliessen Ägypten.