Alle sind gleich vor dem Schabbat, dem hochmodernen Ruhetag

DeutschBossard,_Jenny_-_Familie_am_KaffeetischWir haben uns so daran gewöhnt, jede Woche einen freien Tag zu haben, dass wir uns kaum bewusst machen, wie fremd der Gedanke eines Ruhetags in vergangenen Zeiten war. In unserer Gesellschaft schätzen wir Ruhetage sehr: Wir haben eingeführt, dass es pro Woche nicht nur einen, sondern zwei gibt, und haben so das Wochenende geschaffen. Wir haben völlig vergessen, wie außergewöhnlich die Idee einer regelmäßigen Ruhe ist. Wir spüren kaum noch, wie jung das arbeitsfreie Wochenende ist.

Vor nicht so langer Zeit war schon ein Ruhetag pro Woche ein Luxus; an ein zweitägiges Wochenende war schon gar nicht zu denken. Bevor bezahlte Ferientage üblich wurden, konnten sich nur Reiche Ruhe und Freizeit leisten. Und bevor das Christentum die jüdische Idee des Schabbats1 verbreitete, war selbst ein wöchentlicher Ruhetag unvorstellbar … ausser bei einem kleinen, eigenartigen Volk … dem Volk Israel. Kurz nachdem sie das Land ihrer Knechtschaft verlassen hatte, stand ein Haufen befreiter Sklaven, die die Niederlage ihrer Herren miterlebt hatten, am Fusse des Berges Sinai und hörte:

Gedenke des Schabbat-Tages, ihn zu heiligen … Denn in sechs Tagen hat der Ewige den Himmel und die Erde, das Meer und alles, was darin ist, gemacht, und am siebten Tag hat Er geruht; darum hat der Ewige den Schabbat-Tag gesegnet und ihn geheiligt. (Das Buch Schemot, Kap. 20, Vers 8 und 11)

Ja, diese Leute waren unsere Vorfahren, das Volk Israel, das nur kurz zuvor aus Ägypten – dem Land seiner Leiden – ausgezogen war und nun die Offenbarung G”ttes am Berg Sinai miterlebte.

Die Idee des wöchentlichen Ruhetags, die dann in unserem Volk eingeführt wurde, blieb für die anderen Völker unverständlich. Über tausend Jahre später erzählten griechische und römische Reisende unglaubliche Geschichten über dieses Land der Juden, wo ein Tempel steht, der grösser war als irgendein Gebäude jener Zeit,2 und wo es keine Statuen gibt, weil man nur einen allgegenwärtigen, unsichtbaren G”tt anerkennt. Sie erzählten auch von einem Meer, in dem alles oben schwimmt. Am schwierigsten vorstellbar war aber, dass alle Bewohner des Landes einen Tag pro Woche nicht arbeiteten.3 Die Griechen und Römer begriffen die Bedeutung des Schabbats nicht und beschuldigten die Juden der Faulheit; sie verstanden vom Schabbat einfach nichts. Aber uns wurde befohlen, am Schabbat zu ruhen, weil G”tt am Ende der Schöpfung ruhte; dadurch sollen wir uns daran erinnern, dass G”tt der Schöpfer des Alls ist.

Kann aber G”tt ruhen? Der allmächtige G”tt wird doch nicht müde und braucht keine Ruhe: „Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“ (Psalm 121, Vers 4).

Um die g”ttliche Ruhe zu verstehen, müssen wir versuchen, das g”ttliche Werk der Schöpfung etwas besser zu begreifen. Der allmächtige G”tt brauchte gar keine sechs Tage für die Schöpfung. Er hätte die Welt genausogut in einem einzigen Augenblick schaffen können. Warum nahm Er sich dann sechs Tage Zeit? Indem G”tt die Welt in sechs Tagen schuf, liess Er uns wissen, was unser Zweck in der Schöpfung ist und welche Bedeutung die anderen Geschöpfe haben. Der Mensch, der das letzte Geschöpf in der Abfolge der Schöpfung ist, soll die Schöpfung fortführen, seitdem G”tt ruht. G”tt gibt dem Menschen eine Welt, mit der er arbeiten kann. Wenn der Mensch die g”ttliche Herrschaft anerkennt und seinen g”ttlichen Auftrag erfüllt, verdient er es tatsächlich, an der Spitze der Schöpfung zu stehen. Das bedeutet, dass alle anderen Geschöpfe geschaffen wurden, um dem Menschen von Nutzen zu sein. Wenn aber der Mensch seinen Auftrag vernachlässigt, dann ist er nur eine nachträgliche Hinzufügung und unterscheidet sich nicht wesentlich von den Landtieren, die ebenfalls am sechsten Tag geschaffen wurden.

Indem der Mensch arbeitet, gestaltet er also die von G”tt geschaffene Welt weiter und setzt die g”ttliche Schöpfung fort. So wird der Mensch sozusagen ein Mitarbeiter G”ttes. Ruhe ist das Gegenteil von Arbeit. Am siebten Tag ruhte G”tt, d.h. Er hielt sich davon zurück, etwas zu schaffen. Also … halten wir uns am Schabbat zurück … Wir halten uns zurück? Nun, man muss doch irgendetwas machen? Welche Aktivität ist denn dann während des Schabbats angebracht? … Sich daran zu erinnern, dass G”tt Himmel und Erde schuf, und über diese Tatsache nachzudenken.

Mit anderen Worten, ist es ein Ziel des Schabbats, sich G”tt zu nähern und so auch unser wahres Selbst zu entdecken. Ja, der Schabbat erlaubt es uns, viel über uns selbst zu entdecken. Wir sind in unserem täglichen Leben immer so sehr beschäftigt, dass wir keine Zeit haben, unser wahres Selbst zu erreichen. Wir werden täglich hunderten von Werbebotschaften ausgesetzt … Getränke, die uns glücklich machen sollen, sportliche Kleidung, die uns Abenteuer in Aussicht stellt, Computer-Spiele, die uns Entdeckungen versprechen, und Filme, die uns Spannung bringen wollen. Geschickte Werbung lässt uns nicht fühlen, was wir wollen oder brauchen, sondern sie bringt uns dazu, das zu fühlen, was die Werbe-Kampagnen wollen. Wir sind nicht mehr wir selbst, sondern Marionetten. Wir werden von Konzernen ausgebeutet, die alles von Zahnpasta bis zu Unterwäsche verkaufen. Der Schabbat lehrt uns, dass wir unseren Alltag unterbrechen müssen, um uns selber richtig kennen zu lernen, um tatsächlich wir selbst zu sein. Diese Unterbrechung verlangt einige Selbstbeherrschung, und die Schabbat-Erfahrung ist deshalb auch eine Prüfung, ob man überhaupt diese notwendige Beherrschung aufbringt. Wenn wir Computer, Telefon und Fernseher abstellen, wenn wir nur G”tt und einander haben, nur dann können wir wirklich wir selbst werden.

Also ist der Schabbat ein Tag, an dem wir uns zurückziehen, an dem wir uns vom schöpferischen Tun zurückhalten, um mit uns selbst, mit der eigenen Seele in Kontakt zu kommen, um nach G”tt zu streben. Für unsere Vorfahren, die gerade erst befreiten Sklaven, war das durchaus erreichbar. Jetzt waren sie plötzlich keine Knechte mehr, sondern freie Menschen, die selbst Herren sein und von anderen Arbeit verlangen können. Die Überraschung muss gross gewesen sein, als sie hörten:

Sechs Tage arbeite und schaffe all dein Werk. Aber der siebte Tag ist ein Schabbat G”ttes. Keinerlei Werk sollst du schaffen, du und dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd und dein Vieh und dein Fremder, der in deinem Wohnort ist … (Das Buch Schemot, Kap. 20, Vers 9 und 10)

Wer sollte diese geistige Freude miterleben? Die freien Leute, natürlich – aber deren Diener? Und Fremde? Das Erstaunen unserer Vorfahren war bestimmt gross, doch hatten sie richtig gehört. Die Torá verlangt, dass alle Juden die Schönheit des Schabbats teilen. Alle, unabhängig von ihrem Vermögen und ihrer Bildung, sollen ruhen und können sich geistig entwickeln. So ist der Schabbat nicht nur unser Ruhetag, nicht nur ein Tag zum Beten und Lernen, sondern auch der Tag der Einheit und Gleichheit.

Die wahre Gleichheit, die uns der Schabbat lehrt, kann man nicht aus einem Buch lernen. Viele wichtige Lektionen im Leben kann man nicht aus Büchern lernen. Es genügt nicht, über die Würde aller Menschen, ob arm oder reich, zu lesen – man muss sie erfahren, erleben. Und dafür sollte man den Schabbat erleben.

Ich erinnere mich daran, wie ich einmal einen Schabbat in einer armen Stadt in New Jersey verbrachte. Die meisten Juden waren weggezogen, die übriggebliebenen Gemeindemitglieder waren alt und meist arm; sie hatten es nicht geschafft, in eine bessere, reichere Gegend umzuziehen. Die älteren Damen und Herren konnten im Dunkeln nicht zur Synagoge gehen, und deshalb mussten wir für das Freitagabendgebet rund eine Stunde in die Nachbarstadt gehen, die noch ärmer war. Mitten in diesem Ort stand ein grosses Gebäude, eine Synagoge. Wir gingen hinein und wurden von den Chassidim, denen sie gehörte, herzlich begrüsst. Noch bevor wir die Synagoge betreten hatten, hatte uns schon jemand zum Essen eingeladen. Als wir nach dem Gebet zu ihm nach Hause gingen, wurde uns klar, dass dieser grosszügige Mann arm war. Er hatte nicht viel, aber das wollte er teilen. Die ganze Woche arbeitete er schwer, um etwas zu verdienen, aber am Schabbat war er ein König. Er lud Gäste ein und unterhielt seine Familie; alle waren Prinzen und Prinzessinnen. Sie waren arm an Dingen, aber reich durch diese Erfahrung, sie waren sich ihrer Würde sehr wohl bewusst.

Vor dem Schabbat sind alle gleich. Der Schabbat lehrt uns, dass alle Würde besitzen: ob reich oder arm, jung oder alt, Arzt oder Klempner – alle haben den Schabbat. Und der Schabbat eint uns, denn in unserem hektischen Leben kann es vorkommen, dass wir mit unserer Familie zusammenwohnen, über unsere Brüder und Schwestern stolpern, wenn wir durchs Wohnzimmer gehen, und doch kaum miteinander reden. Natürlich sagen wir einander etwas, „gib mir die Wurst!“ oder „kann ich die Cola haben?“ … Aber wir reden nicht wirlich miteinander. Wir sprechen nicht über das, was uns beschäftigt. Wir können kaum zuhören. Wir sind in unsere eigene kleine Welt vertieft, und in das, was von ihr übrig ist, dringen Fernsehen, Internet und Computerspiele ein. Am Schabbat werden wir an die Würde des anderen erinnert und kommen zusammen. Wir kommen am Schabbat-Tisch zusammen, nach der Mahlzeit auf dem Sofa, in der Synagoge, bei verschiedenen Schiurim und natürlich, wenn ein Kiddusch gegeben wird.

Ist also der Schabbat heute noch wichtig? Er ist wichtiger denn je. Heute sind wir verkabelt und kabellos. Wir sind ständig in Kontakt durch E-Mail, Instant Messaging, Handy, SMS, MMS usw., und man erwartet, dass wir jederzeit erreichbar sind. Wir können nicht einmal eine halbe Stunde abschalten. Aber unser Selbst braucht mehr als ab und zu ein paar Minuten. Nur, indem wir unsere verkabelte und kabellose Welt einen Tag ganz ausschalten, bekommen wir die Ruhe, die wir brauchen, um die Anspannung des Alltagslebens zu durchbrechen.

1Im Deutschen wird Schabbat mit dem Artikel der benutzt. Im Hebräischen ist es aber Femininum, und dementsprechend wird der Schabbat durch eine Frauengestalt, die Schabbat-Königin, versinnbildlicht. Dieser Vorstellung würde die Schabbat eigentlich besser gerecht. Wörtlich bedeutet Schabbat „Ruhe“, die g”ttliche Ruhe, die dem Menschen geschenkt wurde.

2Har ha-Bajit, der Tempelberg, wo der Tempel gebaut wurde, war so gross wie zwölf Fussballfelder.

3Bis vor nicht so langerZeit war es für fast alle Judenselbstverständlich, den Schabbat einzuhalten. Heute fangen immer mehr Leute wieder an, den Schabbat zu feiern.

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