Offene Brief an die Redaktion von “Die Zeit”

DeutschBefore_email_4_Air_letter_from_Saltpond,_Ghana_to_Kabala,_Sierra_Leone_(West_Africa)_January_1968_(3703187062)Es ist mir unklar, was aus journalistischer Sicht trauriger ist, aber der Artikel Andrea Jeskas (Rabbi-Ausbildung / Kein besseres Land für Juden) ist sowohl voreingenommen als auch reichlich mit Fehler versehen. Durch geschickte (oder eben ungeschickte) Wortwahl versucht die Autorin bei den Lesern einige Bilder entstehen zu lassen, in dem das Liberale Judentum deutlich überdurchschnittlich gut abschneidet, während alles Traditionsgetreues negativ geschildert wird. Und wenn die Fakten ihre Behauptungen nicht unterstützen, na ja, wozu braucht man überhaupt Fakten?

Es fängt bereits damit an, dass sie das Liberale Judentum mit der europäischen Liberalität verbindet, als ob es um Zwillingsschwestern ging, als ob man nicht religiös traditionsgetreu und politisch liberal, oder umgekehrt sein könnte. Dass es hier bloß um Homonyme geht, die ganz andere Bedeutungen haben, wird den Lesern verschwiegen, denn das Liberale Judentum wird als „modern“ vorgestellt, während das mit der rabbinischen Tradition verbundene Judentum zwar von der alten Weisheit geprägt sei, aber „auf Gräbern geboren“.

Weiterhin heißt es in dem Artikel, der Gründer des Abraham-Geiger-Kollegs habe viele akademische Titel. Hinsichtlich der Qualifikationen und Errungenschaften der Gründer des Rabbinerseminars zu Berlin bleibt die Autorin stumm, obwohl die Ziele der gesamten Lauder-Jeschurun Institutionen, und mittlerweile sogar ihre Errungenschaften, viel weiter gehen, als das was Walter Homolka mit dem Geiger-Kolleg jemals nur hoffen kann. Die Berliner Jeschiwa versucht nämlich nicht lediglich, Rabbiner auszubilden, sondern Juden traditionsbewusst zu erziehen. Das Rabbinerseminar ist eine berufliche Ausbildungsstätte, die Jeschiwa hingegen ist die unentbehrliche Bildungsstätte, das größere Gesamtkonzept, in welches sich das Rabbinerseminar nahtlos einfügt. Nicht nur die Geistigen, sondern alle Juden, ob Zahnarzt, Kinderarzt, Tierarzt oder Auto-Arzt (eh, Automechaniker) und Gemüsehändler können sich hier mit den klassischen jüdischen Texten intensiv auseinandersetzen und ausbilden. Das Ziel von Lauder-Jeschurun ist nichts weniger, als das deutsche Judentum zu ändern, es mit einer neuen Dynamik und einer neuen Traditionstreue zu versehen, und damit eine neue Art jüdischer Gemeinschaft entstehen zu lassen. Eben dies ist bereits in beachtlichen Maße gelungen.

Ferner verwendet Frau Jeska, wie bereits angedeutet, Ausdrücke, die offenbar gezielt versuchen, bei den Lesern, Sympathie und Faszination für die eine jüdische Strömung und Antipathie für die andere zu erzeugen, anscheinend entsprechend der Vorlieben bzw. der Vorurteile der Autorin. So sind die Absolventen des Geiger-Kollegs, die ausführlich interviewt wurden, „schön, klug, voller Selbstvertrauen“ oder „cool“, hoch gebildet, sprechen viele Sprachen und sind „elegant gekleidet“. Wenn eine aus dem ehemaligen Ostblock stammt, besitzt sie eine „Kompatibilität mit den besonderen Anforderungen in Deutschland“, während die gleiche Qualität, aus dem Ostblock zu stammen und mit der Kultur der Einwanderer vertraut zu sein, angeblich bei den Studenten des Rabbinerseminars etwas unkosmopolitisch ist, denn sie stammen nach der Meinung der Autorin „ausnahmslos aus Osteuropa“, und die Autorin schildert, wie all diese Studenten der Lauder-Jeschiwa „heimatlos“ wurden. Übrigens stimmt es nicht, dass sie alle aus Osteuropa stammen. Sie kommen aus ebenso viel unterschiedlichen Ländern, wie jene Studenten des Geiger-Kollegs, nur sind es viel mehr.

Die Studenten des berliner Rabbinerseminars und der Lauder-Jeschiwa tragen in dem Artikel, im Gegensatz zu den anderen Interviewten, keinen Namen. Mit einem Rabbiner, der im Berliner Rabbinerseminar ausgebildet wurde zu sprechen, versucht die Autorin gar nicht erst. Stattdessen bezeichnet sie die Studenten als „mit Bart und sinisterem Blick“, die „Lichtjahre … von der säkularen und emanzipierten deutschen Gesellschaft“ getrennt sind. Merkwürdig, denn ich hätte mir vorgestellt, dass solche Leute, die sich in der Gesellschaft behaupten und ihre Identität stolz tragen, erst recht emanzipiert sind.

Übrigens wird dem Leser auch nicht deutlich, ob Jeska sich für Studenten des Rabbinerseminars oder lediglich für die der Lauder-Jeschiwa interessierte. Mit wem will sie die Studenten des Geiger-Kollegs vergleichen? Geht es hier um einen vergleich von Äpfeln mit Orangen?

Ob Jeska mit ihrer Bemerkung, dass das Geiger-Kolleg vom Staat und die Berliner Jeschiwa von einer privaten Foundation unterstützt wird, eine (Minder-)Wertschätzung oder nur eine neutrale Information vermitteln wollte, kann ich nicht beurteilen, in jedem Fall jedoch, liegt Jeska falsch. Denn das Rabbinerseminar wird hauptsächlich vom Zentralrat der Juden in Deutschland getragen, und es verhandelt zurzeit mit dem Staat über eine künftige staatliche Unterstützung. Ebenfalls erwähnenswert ist es, dass das Geiger-Kolleg nicht Urheber der Idee der allgemeinen Bildung für Geistliche ist. Viele Absolventen des Rabbinerseminars zu Berlin tragen akademische Titel, einige sind gerade dabei, zu promovieren.

Andrea Jeskas gesteht aber immerhin ein: „auch diese Rabbiner haben keine vergiftete Tradition“. Letztendlich sind es doch solche orthodoxe Rabbiner, die die übergroße Mehrheit jüdischer Gemeinden betreuen, die solche Leistungen bieten können, die international anerkannt sind, also die Tradition mit Qualität anbieten.

Es ist zu hoffen, dass Frau Jeska ihre anscheinend vorhandenen Vorurteile überwinden und den Lesern künftig ein deutlicheres und objektives Bild der jüdischen Religion in Deutschland wird vermitteln können. Vielleicht schreibt sie dann auch einmal über das moderne, selbstbewusste, zukunftsorientierte, traditionstreue Judentum der typischen deutschen Einheitsgemeinden mit orthodoxen Rabbinern aus Deutschland, den USA, Israel, England, der Schweiz und … Belgien (woher meine Wenigkeit stammt).

Rabbiner Arie Folger
Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern

Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland
ועידת הרבנים האורטודקסים דמדינת אשכנז
Orthodox Rabbinical Conference of Germany
Sekretariat – מזכירות – Office
Roonstraße 50
50674 Köln

5 Responses to Offene Brief an die Redaktion von “Die Zeit”

  1. Natalie Hassman says:

    On the day the Rabbi wrote his post, the liberal Jewish Community of Munich led the Jewish-Bavarian stammtisch in Garmisch-Partenkirchen. The plan is to establish a Jewish community in this resort town as requested by the city mayor’s office to attract business. It was my first experience with the liberal community practice and ritual. I was quite struck that many of the practices in progressive Judaism are clearly at variance with liberal democratic principles.
    SEPARATION OF RELIGION AND POLITICS The core of “normative” Jewish Shabbat liturgy is centered around universal ethical values. In liberal liturgy I found several instances of clear use of religion to advocate a political agenda of a narrow political group. Texts were changed beyond recognition in order to further today’s political agenda regarding Middle Eastern conflict or other contemporary poliitcal issues like gender politics, etc.
    IGNORING THE JEWISH MAINSTREAM The tempering with texts, the changing of familiar melodies beyond recognition do not reflect a consensus among modern Jewish communities about issues of identity where family traditions play an important role. The liberal construct is more akin to an elitist politicized ideology far removed from a genuine expression of faith shared by the majority.
    FINALLY THE AUTHORITARIAN ROLE OF THE RABBI I found that in liberal Judaism the role of the pulpit rabbi is elevated into an authoritarian figure. He presides over the service, makes speeches leaving no voice for the congregation. This probably reflects Germany’s 19th century political system along with the impact of Christian theology. In today’s flat networked world the lack of participation by the congregation strikes me not only as undemocratic but as outmoded. The traditional role of the rabbi in Judaism as “prima inter pares”, a source of expert knowledge and social worker, is more compatible with democracy.

    I’m not affiliated with the Orthodox movement. I teach political science, to include issues of religion and politics. I feel that the attack on the Orthodox movement in Germany is baseless.

    Natalie Hassman
    Professor for Eurasian Studies
    US Army, Germany

    • Arie Folger says:

      Thanks for commenting.

      While I clealry afilliate Orthodox and am solidly anchored in the European Einheitsgemeinde, I do want to point out that I am not trying to get involved in “interdenominational politics.”

      The issue with Andrea Jeska’s article which I criticize is not really a Liberal vs. Orthodox matter, but rather one of journalistic ethics. It’s perfectly ok for a secular magazine to run an article on Liberal Jewish institutions and spokespeople. What’s not acceptable is to fool the reader through judicious use of languange in order to arouse sympathy for one view over another.

      To do otherwise is to make a mockery of the objectivity of the press.

  2. Sehr geehrter Herr Rabbiner Folger,

    vielen Dank für Ihre Klarstellung zum Kommentar von Frau Natalie Hassman, dass es Ihnen nicht um eine Auseinandersetzung „Liberal vs. Orthodox“ geht. Doch so wie es Ihnen wichtig ist, das durch den Zeit-Artikel vermittelte falsche Bild des Rabbinerseminars zu Berliner zu korrigieren, kann auch Frau Hassmans Beschreibung des liberalen Kabbalat Schabbat in Garmisch-Partenkirchen nicht unwidersprochen bleiben.

    Falsch ist, dass die Liberale jüdische Gemeinde Beth Shalom München den Jüdisch-Bayerischen Stammtisch in Garmisch-Partenkirchen „leitet“ und die Absicht verfolgt, dort eine jüdische Gemeinde zu gründen. Beth Shalom war lediglich Gast der kürzlich gegründeten interreligiösen Plattform und hat, vor Beginn des Treffens, für jüdische Teilnehmer und einige nichtjüdische Gäste eine Tefilla zum Kabbalat Schabbat unter Leitung von Rabbiner Tom Kucera durchgeführt.

    Es ist ein Geheimnis von Frau Hassmann, wie sie nach einem einzigen Besuch eines Kabbalat Schabbat zu ihrer weitgehenden Bewertung kommt, “many of the practices in progressive Judaism are clearly at variance with liberal democratic principles”. Die “35 Grundsätze des liberalen Judentums”, zu denen sich Beth Shalom bekennt und die wir auch in die Praxis umsetzen, sprechen eine andere Sprache (www.liberale-juden.de/35-grundsatze). Ebenso entbehrt der Vorwurf einer „politischen Agenda“ in der von Beth Shalom gepflegten Liturgie jeder Grundlage, was anhand des von uns benutzten Gebetbuchs Seder HaTefiloth nachprüfbar ist.

    Gänzlich unverständlich ist Frau Hassmans harsches Urteil über die angebliche „autoritäre Rolle“ des liberalen Rabbiners, der keinen Raum für die „Stimme der Gemeinde“ lasse. Welches Modell möchte sie an die Stelle einer vom Vorbeter geleiteten Tefilla setzen, in dem die Gemeinde Gebete mitspricht oder mitsingt und der Rabbiner eine Drascha hält? Genügend Platz für Fragen, Diskussionen und Gesprächen bot das gemeinsame Abendessen. Außerdem gab es am nächsten Tag einen Schiur, zu dem Frau Hassman nicht gekommen ist. Wie verletzend die Beschuldigung ist, sich „undemokratisch“ zu verhalten, wird jeder verstehen, der Rabbiner Tom Kucera in der Gemeinde und in der Öffentlichkeit erlebt hat.

    Was eine „normative“ Kabbalat-Schabbat-Liturgie ist und welche Melodien den „Mainstream“ darstellen, hängt sicherlich vom Standpunkt des Beobachters und dem Umfang seiner Erfahrungen mit der Vielzahl der in der jüdischen Welt gepflegten Minhagim und Nusachim ab. Die meisten an dem Abend in Garmisch-Partenkirchen gesungenen Melodien sind jedenfalls in zahlreichen Synagogen unterschiedlicher Richtungen in Deutschland und weltweit „zu Hause“.

    Schließlich muss festgehalten werden, dass sich ihr Satz „I feel that the attack on the Orthodox movement in Germany is baseless.” nicht auf Äußerungen von Rabbiner Kucera oder eines anderen Vertreters von Beth Shalom beziehen können, denn auch wir sind von der Einheit des Judentums (Klal Jisrael) überzeugt und nicht an Auseinandersetzungen „Liberal vs. Orthodox“ interessiert.

    Mit besten Grüßen, Schalom
    Dr. Jan Mühlstein, 1. Vorsitzender, Liberale jüdische Gemeinde Beth Shalom München

    • Arie Folger says:

      Sehr geehrter Herr Mühlstein

      Ich bin stolz von meiner Orthodoxie und stehe ganz zu ihr. Ich habe dementsprechend auch Stellungnahmen punkto „Liberal vs. Orthodox“, die ich aber mit Absicht hier nicht reingemischt habe (und eben hier jetzt weiterhin nicht thematisieren werde). Ich habe aber geschrieben, wie Sie auch bestätigen, dass es mir in meinem offenen Brief nicht um eine Auseinandersetzung „Liberal vs. Orthodox“ ging, sondern um die Qualität eines Presseorgans, und dazu stehe ich weiterhin.

      Ich nehme hier dementsprechend keine Stellung über Ihre Auseinandersetzung mit Prof. Natalie Hassman, weil ich (a) nicht zu jenem Thema geschrieben hatte, und (b) keine Ahnung habe, von dem, dass sich in Garmisch-Patenkirchen abgespielt hat oder geplant ist. Es ist mir eine Ehre, solange beide Seiten sich höflich gegeneinander äußern, um hier Raum für einen Austausch anzubieten.

      Sie schrieben ebenfalls:

      Schließlich muss festgehalten werden, dass sich ihr Satz „I feel that the attack on the Orthodox movement in Germany is baseless.” nicht auf Äußerungen von Rabbiner Kucera oder eines anderen Vertreters von Beth Shalom beziehen können…

      Dies möchte ich ebenfalls bestätigen: ich habe hier tatsächlich keine Klage gegen Beth Schalom oder ihren Vetretern geäußert, nur gegen dem Artikel von Frau Jeska von “Die Zeit”.

      –AF

      • Natalie Hassman says:

        I apologize for a long delay in responding to your mails due to family problems. Thank you, Rabbi Folger, for your sharp analytical comments. And to you, Mr. Muehlmann, for clarifying possible misperceptions regarding liberal Judaism, as well as Beth Shalom’s role in the potential establishment of the Garmisch Jewish community. I want to make it clear – my critical observations were not in any way directed at you or at Rabbi Kucera either personally or in your roles as community leaders. It was a personal reflection on my first — rather limited but quite painful — encounter with liberal Judaism in Garmisch in the context of Andrea Jeskas’ article. Her piece published in a top German paper prompted me to challenge what I believe is a misleading dichotomy that liberal Judaism is directly associated with European modernity/political liberalism, while Orthodox Judaism is not. I regret and apologize if my harsh/unfair words may have inadvertently caused you anguish. On the eve of Rosh Hodesh Tammuz my thoughts and prayers are for “shalom bait.” I hope Andrea Jeskas will be doing a new story on Jewish Orthodox communities in new Germany. The message she sent to the German public with her article that Orthodox/traditional Jews are somehow out of touch with modern German democratic society, that they might be creating a “parallel society”, needs to be corrected. It is biased journalism. I spent a recent academic meeting with German partners in inter-cultural dialog dispelling negative stereotypes about our Orthodox communities. I am relieved that Beth Shalom is committed to maintaining the religious identity of the Jewish people. The Kabbalat prayer service in Garmisch, where by our calculations and to the best of our knowledge, Jews were outnumbered by invited non-Jewish guests, left me and my husband, an American Conservative Jew, questioning “quo vadis?” / le’an this inter-faith dialog project. When young media-savvy well-meaning young Christians — fascinated with Jews and Jewishness and encouraged by Garmisch city authorities in a small town away from the Jewish mainstream — begin to play a very active role in trying to shape a future Jewish community they call “Neuland… When their talented charismatic leader, dear Axel, a local religious teacher on the payrolls of the Catholic community, a Zen Master, is an Associate Member of Beth Shalom congregation. Your heart melts when you hear the story about the Jewish roots, Judaism Studies in Jerusalem of this truly remarkable man in excellent Hebrew. When ca.60-65 out of 80 invited Kabbalat Shabbat guests are non-Jews listening to Kiddush…Then you gradually begin to understand that the distinctions between “Israel “and the “Amim” become somehow blurred. Then you pause to realize how important the role of Orthodox communities must be in order to revitalize German Jewry and Judaism to maintain the continuity of our Jewish tradition. Rosh Hodesh Tov to both of you.

        Respectfully,

        Natalie Hassman

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