Auch in der Gegenwart gilt G”tt weiterhin als oberste Richter und König*
Einer der Höhepunkte des Gebets an Rosch ha-Schana (und in vielen Gemeinden auch an Jom Kippur) ist die Vorbereitung für die Keduschá von Mussáf. Mit der Keduschá verkünden wir die Heiligkeit G“ttes mit den gleichen Worten, die die Engel im himmlischen Reich sprechen, wenn sie G“tt lobpreisen. An Rosch ha-Schana (und in vielen Gemeinden auch an Jom Kippur) geht eine dichterische Einführung der Keduschá von Mussáf voran: das Untaneh Tókef.
In jenem Gebet betonen wir, dass an dem heutigen Tag alle Geschöpfe gerichtet werden, ja sogar die Engel, dessen Worte wir für die Keduscha anschließend verwenden. Vor dem g“ttlichen Gericht kann keiner siegreich sein, denn nur G“tt ist vollkommen, und wir begehen alle Fehler; sogar die Engel beben vor Ihm und fürchten den Rechtsspruch. Weiter heißt es:
Wie der Hirte seine Herde prüft, seine Schafe unter seinem Stab hindurchgehen lässt, so lässt Du vorbeiziehen, zählst, berechnest und prüfst Du die Seele jedes Lebewesens und bestimmst die Grenze jedes Geschöpfes und schreibst ihr Urteil. Am Rosch ha-Schana wird eingeschrieben und an Jom Kippur besiegelt wie viele hinübergehen und wie viele geboren werden, wer wird leben und wer wird sterben.
Das hört sich hart an. Aber diese Härte ist nicht das einzige, welche verhindert, dass es uns gelingt, die Stimmung von Rosch ha-Schana in uns aufblühen zu lassen. Die zwei Themen von Rosch ha-Schana fallen uns schwer, zu begreifen. Einerseits gibt es das bereits erwähnte Thema des g“ttlichen Richtens. G“tt ist der oberste Richter, und wir müssen Alle Rechenschaft abgeben. Richtig? Fühlen wir das? Natürlich ist es richtig, aber uns, die in einer sehr freizügige Gesellschaft leben, in der das Wort Sünde fast seine ganze Bedeutung verloren hat (Schokolade essen soll so eine Sünde sein, und dann noch eine, die wir gerne übertreten), dass uns das Konzept fast verloren gegangen ist.
Das andere, noch dominantere Thema des Feiertages ist, G“tt als Alleinherscher an zu erkennen. Aber mindestens seit Ludwig II am Starnberger See mysteriös ertrank gibt es nicht einmal mehr Märchenkönige in unserer Welt, geschweige absolute Monarchen, die mit der französischen Revolution aus dem Westen und mit der bolschewikischen Revolution aus dem Osten verschwanden. So kommentierte ein Rebbe mit dem Aufmarsch der Vorkriegsdemokratie in Polen, dass man uns nun unser Musterbeispiel gestohlen hatte.
Die Demokratie hat uns unvorstellbare Freiheit gebracht, nur fehlt uns seit ihr Aufmarsch der Wortschatz, um unsere Beziehung mit G“tt zu beschreiben. Sollte man etwa die Gebete neu umformulieren und G“tt als Geschäftsführer der Welt darstellen? Als Chef bei der Arbeit? Denn der kann wenigstens heute noch entscheiden, wer arbeiten und wer seine Stelle verlieren wird.
Aber nicht nur die Worte, mit denen wir G“tt beschreiben, wirken seltsam für uns. Der Gedanke, dass im Himmel in einem Gerichtshof über uns entschieden wird, ist weltfremd für uns, die in einer wissenschaftlich-technologischen Ära leben. Im dritten Jahrhundert der industrielle Revolution, im Jahrhundert der Informatikrevolution, sind wir es gewohnt, dass wir die Welt beherrschen. Wir können alles kontrollieren und beherrschen, und wenn nicht, mindestens wissenschaftlich erklären und belegen, warum etwas nicht so ist, wie wir es uns wünschen.
Dieser letzter Punkt spielt im philosophischen Essay The Lonely Man of Faith von Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik eine große Rolle. Er sieht in den Menschen zwei Facetten: Homo technologicus und Homo religiosus. Eigentlich wackeln wir immer zwischen diesen zwei Polen, denn wir sind sowohl wissenschaftlich als geistig geprägt. Beide sind sogar g“ttliche Aufträge für uns. Nur droht der eine Aspekt den andern zu verdrängen. Ganz besonders verdrängt unser technologisches Können immer mehr unserer Fähigkeit, sich geistig zu besinnen. Unsere technologische Seite sagt: Yes, we can. Wir können alles, und werden auch alle Probleme auf Erden in absehbarer Zeit lösen. … bis neue größere Probleme auftauchen. Die geistige Seite gibt uns die nötige Bescheidenheit, um tatsächlich Fortschritt zu machen, denn sie erinnert uns dauernd an unsere Grenzen.
Eben diese Grenzen soll das Untaneh Tokef und Rosch ha-Schana stark in unserem Bewusstsein verankern. Nur unser täglicher Umgang mit Technologie und menschliches Können erschwert diese Übung.
Dafür werden wir immer wieder aus unserem Schlummer und Wahnvorstellungen wachgerüttelt. Die Politiker, die immer alles zu lösen wissen, stehen ratlos vor einer Tragödie großen Ausmaßes in Syrien und dem ganzen arabischen Nahost. Was vor zwei Jahren als ein arabischer Frühling galt, der Freiheit und Wohlstand bringen wird, entfaltet sich als eine wahre Katastrophe. Wo ist unser politisches Können? Die weisen Köpfe sind ratlos.
In Syrien gibt es mittlerweile wohl mehr als 100’000 Tote, zwei Million Flüchtlinge haben das Land verlassen und halten sich in Nachbarländern auf, sieben Million wurden obdachlos. מי יחיה ומי ימות – Wer wird leben und wer wird sterben.
Sie finden, Europa ist noch immer eine sichere Distanz entfernt von jener Hölle? Seien Sie dankbar und froh, wenn Sie eine Arbeitsstelle haben oder von einem anständigen sozialen Sicherheitsnetz getragen werden. In Spanien, Portugal und Griechenland sind sie nicht so glücklich. Dafür heißt es מזונותיו של אדם קצובים לו מראש השנה לראש השנה – An Rosch ha-Schana wird jedem sein ökonomischer Wohlstand für das nächste Jahr entschieden (Babylonischer Talmud, Bejzá 16a).
Spätestens, wenn jemand auf einer Notfallstation aufgenommen werden muss, auch wenn er einen Tag später nach Hause zurückkehrt, lernen wir, dass wir dankbar sein dürfen, für unsere Gesundheit. Nach einer Magengrippe oder einer Darmverstopfung lernen wir, ernst zu nehmen, was im Aschèr Jazár Segensspruch steht, das man immer nach einem Besuch der Toilette sprechen sollen, auch stimmt: שאם יפתח אחד מהם או יסתם אחד מהם אי אפשר להתקיים – Wenn nur ein Gefäß des Kreislaufsystem oder des Verzehrungssystem offen ist, wenn es zu sein soll, oder verstopft, wenn es sich öffnen muss, dann können wir nicht mehr stehen bleiben und brechen zusammen.
Wahrhaftig, obwohl wir in zwei Jahrhunderten den größten, unvorstellbarsten, technologischen Fortschritt der Weltgeschichte kannten, und der Mensch die Natur und die Welt besser denn je beherrscht, bleibt dies ein Traum, den wir nie erreichen können. Schlußendlich beherrschen wir unser Schicksal nicht oder kaum. Was wir erreichen, tun wir zwar dank der menschlichen Vernunft, aber eigentlich dank der Fähigkeiten und Möglichkeiten, die G“tt uns in Seiner Gnade schenkt. Ein bisschen Bescheidenheit wird unsere Augen öffnen.
Mögen wir unsere Augen öffnen, damit die Themen von Rosch ha-Schana für uns verständlich werden, ohne, dass sie durch Leid und Unglück greifbar werden müssen.
Fußnote:
*: Predigt von Rabbiner Arie Folger an den 1. Tag Rosch ha-Schana in der Ohel Jakob Synagoge der IKG München
Dear All, hallo Alle, I enjoyed reading the essay by Rabbi Arie Folger on “the ability to observe G-d as Judge and King”, Ich habe sehr gerne den Aufsatz von Rabbiner Arie Folger bezüglich “der Fähigkeit, G-tt als Richter und König wahrzunehmen”. Most important for me is the opportunity of inner reflection – especially during a Yom Kippur Service, sehr wichtig für mich ist die Gelegenheit, in sich zu gehen – ganz besonders während eines Yom Kippur Gottesdienstes. The modern life around us and with us moves to fast and can lead to detachment to oneself and even confusion – who am I and who am I not? Das moderne Leben um uns und mit uns bewegt sich zu schnell – wer bin ich und wer bin ich nicht? By self-reflection and being self-criticial we learn to reconnect to our inner selves. Durch den Prozess des in sich gehens und der Selbstkritik lernen wir, mit unserem inneren Selbst in Kontakt zu gehen. This process opens the doors to a much deeper connection, to G-d. Dieser Process führt zu einer noch tieferen Verbindung, zu G-tt.