Warum erlaubt G”tt böses? Die Frage der Theodizee bewegt seit immer schon den Menschen. Jedoch gibt es auch originelle Gesichtspunkte, die zu unserem Verständnis der Frage beiträgen. So fragte mir eines Tages Herr Joschka Kämpchen: “Warum heilt G”tt nicht die Amputierten?” Aus dieser Auseinandersetzung wuchs ein Artikel von mir, der vor kurzem in der Jüdischen Allgemeine veröffentlicht wurde. Die Diskussion mit Herrn Kämpchen war aber viel tiefgehender. Anbei eine längere Version unserer gemeinsamen Auseinandersetzung.
Eine rabbinische Diskussion zu einem religionsphilosophischen Thema.
Von Rabbiner Arie Folger mit Joschua Kaempchen
Warum heilt G-tt keine Amputierte?
Diese Frage ist natürlich nur eine andere Version der alten Frage der Theodizee, “Wenn es G”tt gibt und Er gütig ist, wieso gibt es so viel Leid auf Erden.” Die Frage ist seit je eine der großen Frage der Religion, und gilt nicht nur als “Fels des Atheismus”. Diese Frage ist das zentrale Thema des 92. Psalmes und ein bedeutendes Thema des 73. Psalmes.
EWIGER, wie sind Deine Werke so groß! Deine Gedanken sind so sehr tief. Ein Törichter (Hebr. Isch ba’ar) versteht das nicht, und ein Narr begreift solches nicht, dass die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle… (Psalm 92:5-7)1
Die Ausdruck “ein Törichter”, Isch ba’ar, im Zusammenhang mit dem Verb lada’at, zu wissen oder verstehen, kommt ebenfalls im 73. Psalm vor, wo der Psalmist bekennt anochi Isch ba’ar, lo eda’, “da war ich ein Törichter und verstand nicht”:
Ich aber hätte schier gestrauchelt mit meinen Füßen; mein Tritt wäre beinahe geglitten. Denn es verdroß mich der Ruhmredigen, da ich sah, daß es den Gottlosen so wohl ging. …[Sie] sprechen: “Was sollte Gott nach jenen fragen? Was sollte der Höchste ihrer achten?” Siehe, das sind die Gottlosen; die sind glücklich in der Welt und werden reich. … ich bin geplagt täglich … Ich hätte auch schier so gesagt wie sie … Ich dachte ihm nach, daß ich’s begreifen möchte; aber es war mir zu schwer, … da war ich ein Törichter und wußte nichts; ich war [unwissend –AF] wie ein Tier vor Dir. Dennoch bleibe ich stets an dir … (Psalm 73:2-23)
In beiden Psalmen setzt sich der Psalmist mit dem Thema der Theodizee auseinander. Der Geisteszustand des Psalmisten ist aber in diesen zwei Psalmen grundsätzlich eine andere. Im 73. Psalm ist er sehr betrübt von dieser Frage, wankte fast in seiner Glaube und fängt nicht an zu ahnen, wie mit dem Paradox der Theodizee umzugehen. Im 92. Psalm zeigt der Psalmist Verständnis. Die Törichte und Narren verstehen es nicht, aber eigentlich gibt es Antworte, gute Antworte, auch wenn wir sie nicht immer ganz verstehen. Vermutlich bilden die Psalmen 73 und 92 mit Absicht ein Duet, denn sonst kommt die Ausdruck “ein Törichter”, Isch ba’ar, im Zusammenhang mit dem Verb lada’at, in den Psalmen nicht vor.
Frage ist die einzige Frage die man sich stellen muss. Diese Frage geht über die Theodizeefrage hinaus, dass niemals ein Amputierter geheilt wurde, ebenso wurde niemals ein Mensch mit Down-Syndrom geheilt (es ist zwar ein Gendefekt und keine Krankheit, aber dennoch).
Hinter dem „Fels des Atheismus“ stecken tatsächlich zwei Fragen, die aber liebsten separat betrachtet werden. Einerseits gibt es die Frage der Theodizee, anderseits eine sehr praktische Frage: wenn G“tt alles Kann, und unsere Vorfahren mit solchen Wunder biblischer Ausmaß aus Ägypten herausbrachte, wieso sehen wir solche klare Wunder seit Jahrtausende nicht mehr? Bleiben wir zuerst bei der Theodizee.
Nach einer Erklärung des Talmuds (TB Berachot 7a) war es ausgerechnet dieses Paradox, das Moses vor G”tt bat, ihm aufzuklären, als er sagte: Lasse mir Deine Wege erkennen (Exodus 33:13). Nach einer Auffassung gestand G”tt ihm diese Bitte. Nach einer anderen Auffassung, von Rabbi Meïr und Rabbi Jehoschua’ Ben Korcha, verweigerte G”tt ihm die Lösung dieses Paradoxes, “denn es hat Mich kein Mensch gesehen und am Leben geblieben” (ebd, 33:19-20), d.h., dass wir es zu unsere Lebzeiten nicht komplett begreifen können.
Wir können also keine definitive Antwort geben, sind wir ja auch nur Mitglied der lebendigen Menschheit. Aber hier ist eine wichtige Antwort: Stellen wir die Frage anders um. Was wäre es für eine Welt, wo es kein Leid gibt, wo alle Probleme mit einem Wunder verschwinden? Wäre das eine Welt, die wir erkennen? Eine Welt, in der es menschliche Verantwortung, Nächstenliebe, sogar menschliches Vernunft geben kann? Es wäre eine Märchenwelt, eine fabelhafte Welt, aber nicht eine Welt, in der eine Menschheit, wie wir sie kennen und wollen, existieren könnte. So eine Welt entspricht eher dem statischen Jenseits, in das wir nach dem Ableben hineintreten werden, nicht aber einer dynamischen Welt, in der menschliche Taten Bedeutung haben. Die dynamische Welt in der wir leben und leben wollen, in der wir Partner mit G”tt sein können und Seine Schöpfung mit erbauen, die ist notwendigerweise eine Welt, in der es auch Leid, Not und Bedürfnis geben kann.
Angeblich werden täglich Menschen von Krebs geheilt, dank eines Wunders, und da haben Leute keinerlei Problem G-tt zu danken für das angebliche Wunder. Da kümmert es nicht wenn G-tt Leid aus der Welt schafft. Im Gegenteil, man verständlicherweise froh. Amputierte werden aber doch nie wieder vollkommen geheilt!
Was werden Sie sagen, wenn in einigen Jahrzehnten, die Medizin Amputierte heilen kann, und wir dazu herausfinden, dass wir es Jahrzehnten früher hätten schaffen können, aber wegen mangelhafte Prioritäten es ungerechterweise verzögert haben? Vielleicht ist das eine unseren moralischen Herausforderungen?
Mit Sicherheit ist das unsere moralische Verantwortung und auch die eigentliche Lösung, nur, in diesem Bild ist G-tt direkt nicht vorhanden.
Doch, umgekehrt. Es gibt einen bekannten Midrasch, in dem Abraham zu eine entscheidende Wende kommt. Er reist entlang eines Wegs und sieht eine prächtige Burg. Aber sie brennt. Da staunt er und fragt, wo ist der Herr der Burg? Worauf eine himmlische Stimme antwortet: Ich bin der Herr der Burg. (Berejschit Rabba 39:1).
Die übliche Erklärung ist die, von Raschi, nachdem Abraham staunte, wieso die prächtige Welt in der wir leben, ohne Schöpfer sein könnte, denn alle prächtige Gebäude haben einen Architekten, einen Bauherr. An diese Stelle wurde Abraham zum Monotheisten, und offenbarte G”tt sich vor ihm.
Jedoch befasst sich jene Erklärung nicht, mit dem Brand, der im Midrasch erwähnt wird. Daher lehrt Rab. Esra Bick, dass Abraham hier nicht Argumente lieferte, um an G”tt zu glauben, sondern setzte sich mit der Frage der Theodizee auseinander. Seine Frage war nicht, kann es denn sein, dass es keinen G”tt gibt, sondern wunderte er, wenn es G”tt gibt, und es gibt Ihn schon sicher, wieso erlaubt Er Leid in Seiner Welt, wieso erlaubt er der Burg zu brennen?
G”ttes Antwort ist ein bisschen enigmatisch, eigentlich sagt Er aber “Ich bin da, aber was tust du?” Das Feuer brennt, und Abraham denkt, es sei G”ttes Aufgabe es zu löschen. G”tt aber weist ihn darauf hin, dass es eben die Aufgabe Abrahams, und die allen Menschen ist, vor G“tt unserer Verantwortung bewusst zu werden und sie zu übernehmen.2
Und wieso gibt es Jahrtausende keine Wunder biblischer Ausmaß im Alltag?
Rambán (Nachmanides) und – in kürzerer Form – Raschbám, lehren in ihren Kommentare zu Exodus (23:20-22), dass bereits kurz nach dem Auszug aus Ägypten, Jahrzehnten vor dem Tod Mose, G”tt verkündete, dass Seine Präsenz nach dem Tod Mose weniger spürbar sein wird. Dies kommt darin zu Ausdruck, dass Er „einen Boten senden wird“, statt selber direkt aufzutreten und in die Geschichte einzugreifen.3
Sowohl Rambán als Raschbám glauben also, dass von vornherein, schon bei der Offenbarung am Sinaj, vorgesehen war, dass die Zeiten der Wunder nur so lange dauern sollten, wie Moschè lebte. Wunder von der Größenordnung der zehn Plagen sollte es danach nicht mehr geben. Sogar die Einnahme des Landes Israel sollte fast „normal“ geschehen: Jehoschú’a und das Volk Israel sollten militärische Mittel einsetzen. Rambán und Raschbám sagen uns, dass es in der Geschichte der Welt und in der Geschichte des jüdischen Volkes auch manche einmaligen Ereignisse und einmaligen Epochen gibt, die sich später nicht wiederholen.
Das wirft natürlich die Frage auf, warum es Wunder wie die beim Auszug aus Ägypten in der Zukunft nicht mehr geben sollte. Vielleicht ist der Grund, dass es gar nicht so erstrebenswert ist, in einer bequemen Welt zu leben, in der alles übernatürlich ist. Rabbi ‘Akiwa lehrt uns in der Mischná, dass „die Generation der Wüste keinen Anteil an der Kommenden Welt“ hat (Sanhedrin 10:3). Trotz aller Wunder hatten sie kaum G“ttvertrauen. Vielleicht ist die Menschheit nicht dazu geschaffen worden, in einem Garten von Eden voller Wunder zu leben. Vielleicht geht es uns viel besser in der schwierigen Welt, in der wir leben, in der wir die Freiheit haben, schreckliche Sünden und sogar grausamste Verbrechen zu begehen, aber auch die Möglichkeit haben, das Edelste zu erreichen, wozu der Mensch fähig ist.4
Fußnoten
1Das Thema der Theodizee im 92. Psalm, sowie die Antwort des Psalmisten dazu wurde ausführlicher in meinem folgenden Audio-Vortrag, in französischer Sprache, erläutert: https://ariefolger.wordpress.com/2011/02/08/le-psaume-92-cours-multimedia-en-francais/
2Dieser Midrasch wird ausführlicher im folgenden Audio-Vortrag meiner Wenigkeit behandelt: https://ariefolger.wordpress.com/2012/10/31/die-gestalt-von-abraham-im-midrasch-schiur-2-audio/.
3Man vergleiche das mit den Worten der Pessach-Haggada:
ויוציאנו ה‘, ממצרים—לא על ידי מלאך, לא על ידי שרף, לא על ידי שליח, אלא הקדוש ברוך הוא בכבודו ובעצמו:
„Und der Ewige holte uns aus Ägypten“ – nicht durch einen g”ttlichen Boten, nicht durch einen Seraph, nicht durch einen Beauftragten, sondern der Heilige, gelobt sei Er, in Seiner Herrlichkeit, Er selbst.
4Dieses Thema erläuterte ich ausführlicher in meinem Essay Dor Ha-Midbar, die einzigartige Generation (2007).