Unter den zahlreichen arbeitsrechtlichen, Zivil-, Kriminal- und Ritualgesetzen unseres Wochenabschnittes finden wir auch Gesetze bezüglich der Gerichtshöfe. Eines dieser Gesetze lehrt indirekt, dass nach einem Mehrheitsprinzip Entscheidungen getroffen werden sollen: „Folge nicht nach der Mehrheit zum Bösen, und sage in einer Streitsache nicht so aus, dass du Recht beugst, wenn du dich der Mehrheit anschließest.“(2. B.M. 23:2).
Obwohl ein Mehrheitsprinzip uns im allgemeinem selbstverständlich erscheint, kann es nicht immer angewendet werden, da es zum Beispiel missbraucht werden könnte. Deshalb befiehlt die Tora, sich nicht von der (einfachen) Mehrheit überzeugen zu lassen, wenn diese zum Bösen entscheidet (soll heißen eine Verurteilung zur Folge hat).
Damit unsere Gerichtshöfe und politische Gremien aufrichtig funktionieren können, müssen die Teilnehmer daher auch frei ihre Meinung nach eigener Überzeugung äußern dürfen. Da eine Gesellschaft schließlich aber ein Aggregat vieler Einzelpersonen ist, befiehlt die Tora nicht nur jedem einzelnen Böses nicht zu ermöglichen, sondern selbst dann zu protestieren, wenn es eine Mehrheit für eine solche Entscheidung gibt.
Das gleiche Prinzip gilt auch, wenn es nicht eindeutig ist, was in einem besonderen Fall gut oder böse ist. Jeder Richter hat die Verantwortung, nach eigener Überzeugung zu argumentieren, damit aus der Spannung zwischen den verschiedenen Argumentationen, ein gerechtes Urteil fallen kann.
Auch ist es nicht immer eindeutig, wie die Einzelstimmen zu zählen sind: sitzen beispielsweise drei Dajanim (Richter) in einem Bejt Din, dann ist es klar, dass man nach einfacher Mehrheit entscheidet. Was aber, wenn verschiedene Experten hinzugezogen werden und nicht alle gleich große Experten sind? Kann dem Votum des einen mehr Gewicht gegeben werden, als dem der anderen? Gilt das Mehrheitsprinzip nur innerhalb eines wohl definierten Gremiums (also z.B. in einem Gerichtshof, einem Parlament oder einem Gemeinderat), wo klar ist, wessen Stimme zählt oder auch außerhalb solcher Gremien? Wenn ich beispielsweise wissen möchte, ob eine bestimmte Handlung nach der Halacha erlaubt ist, es aber in der Literatur unterschiedliche Meinungen gibt, muss ich dann auch die verschiedenen Meinungen wie Stimmen zählen und dann nach der Mehrheit entscheiden? Und wie zählt man dann die Stimmen von Poskim (anerkannte religiöse Rechtsentscheider), die nicht einmal im selben Jahrhundert lebten? Hat ein Possek, der mehr Schüler hatte, die ihn entsprechend auch öfters zitierten, deshalb mehr als sein eigenes Votum, hat er für jeden Schüler, der ihn zitiert und mit ihm einverstanden ist, noch eine Stimme, oder nicht?
Raw Ascher Weiss aus Jerusalem (Minchat Ascher, Jg. 5763, Abschnitt Mischpatim) führt diesbezüglich drei unterschiedliche Meinungen an:
- Laut Hagahot Aschiri folgt man nicht nur in wohl definierten Gremien der Mehrheit, sondern in allen Tora-Fragen, sowohl wenn die Meinungen in einem Bejt Din, in einer Konferenz, als auch über verschiedene Generationen hinweg geäußert wurden.
- Sefer haChinuch („Buch der Erziehung“, Mizwa #78) denkt genau das Gegenteil: das Mehrheitsprinzip gilt nur in den als Sanhedrin bezeichneten Gerichtshöfen. Mehrere Gerichtshöfe wurden einst als Sanhedrin betrachtet. Es gab es das große Sanhedrin von 71 Mitgliedern, das auf dem Tempelberg tagte, sowie einige regionale Sanhedrins von 23 Mitgliedern, einschließlich eines, das ebenfalls in Jerusalem tagte. In geringeren Gerichtshöfen, und erst Recht außerhalb von Gerichtsfällen, hat man jeweils den größeren Toragelehrten zu folgen.
- Ramban (Sanhedrin 32a) vertritt eine Zwischenmeinung, die aber viel leichter zu verstehen ist, nämlich, dass man immer im Bejt Din der Mehrheit folgt, aber doch nur im Bejt Din. Ansonsten wiegen die Meinungen der größeren Experten, der größeren Talmidej Chachamim mehr.
Rabbenu Ascher Ben Jechiel (geb. 1250 oder 1259 in Deutschland – gest. 1327 in Toledo, Spanien) erweiterte das Prinzip zur Gemeindeführung. Wenn Menschen zusammen in einer Gemeinde leben oder dergleichen beruflichen Organisation gehören, dann haben die Mitglieder ihre politischen oder verwaltungsbezogenen Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip zu entscheiden. (Responsa Rosch 6:5)