
Dieser Artikel erschien im Oktober 2020 in der Jüdischen Allgemeine.
In seiner neusten Enzyklika «Fratelli tutti» (Alle Brüder) forder Papst Franziskus eine radikale wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Wende. Franziskus beklagt „eine Zersplitterung“ der Gesellschaft, die zum Beispiel in der jetzt tobenden Pandemie „die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein“ bringt (§7) Er beklagt aber auch „unzeitgemäße Konflikte“, „verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen… mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens“ (§11), ein „Desinteresse für das Allgemeinwohl“ das „von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert“ wird, „welche die Einzelinteressen bevorzugt und die gemeinschaftliche Dimension der Existenz schwächt“ (§12).
Bildet diese Enzyklika einen „eindringlichen Appell für weltweite Solidarität und internationale Zusammenarbeit“, wie der Limburger Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz sie würdigt, oder ist sie „sozialethisch und politisch unterkomplex“, die „thelologisch … nicht viel her“ gibt, ein Musterbeispiel des „religiösen Kitsch“, wie der Wiener Theologe Ulrich Körtner sie wahrnimmt?
Eigentlich beide. Der Papst träumt von einer Utopie der menschlichen Solidarität, und wie Greta Thunberg, findet er auch, dass seine Träume einer gesellschaftlichen Utopie derzeit „Träume, die platzen“ sind. Die Kritik von Körtner trifft eigentlich auch zu. Der Papst bevorzügt eine bestimmte linkssolidarische politische Ausrichtung und vertritt ein radikaler Pazifismus. Für Körtner ist diese aber für die reale Welt eine „politisch illusorische“ und „friedensethisch fahrlässige“ Einstellung, „weil sich der Papst die Welt schönredet und seine utopische neue Welt theologisch nicht vom Reich Gottes zu unterscheiden weiß“.
Jüdisch erklärt ist die pazifistische Prophezeiung Jesajas (11,6) „Da wird der Wolf bei dem Lämmlein wohnen, der Leopard bei dem Böcklein niederliegen; das Kalb, der junge Löwe und das Mastvieh werden beieinander sein, also daß ein kleiner Knabe sie treiben wird“ für „Maschiach‘s Zeiten“, folgt dieser Vers doch auf der Einführung „es wird ein Spross aus dem Stumpfe Isais hervorgehen und ein Schoß aus seinen Wurzeln hervorbrechen“ (ebd. 11,1). Dieser Spross aus der Aste Jischais, also der Maschiach, wird „die Armen mit Gerechtigkeit richten und den Elenden im Lande ein unparteiisches Urteil sprechen; er wird die Welt mit dem Stabe seines Mundes schlagen und den Gottlosen mit dem Odem seiner Lippen töten“ (ebd. 11,4).
Im Gegenteil zur Enzyklika ist ausgerechnet die Prophezeiung Jesajas in der realen Welt besser verankert, denn anders als Franziskus weiß Jesaja, dass Frieden und Gerechtigkeit vom notwendigen staatlichen Gewalt -durch den Maschiach – für die Einhaltung des Friedens und der Gerechtigkeit im Diesseits unentbehrlich ist. Oder wie der – vermutlich letzte – stellvertretende Kohen Gadol (Hohepriester) Rabbi Chanina lehrte, „bete für das Wohl der Regierung, denn ohne sie würde ein Mensch seinen nächsten lebendig verschlingen“ (Sprüche der Väter 3,2).
Das eine fehlende globale gesellschaftliche Einheit, die während der Pandemie „die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein“ bringt, lässt sich auch leicht bestreiten. Die vorübergehende Einschränkungen der Reisefreiheit waren genau, was unter Umständen einer sich rasch verbreitenden Pandemie nötig war, und in Anbetracht der zahlreichen Kritiken der Weltgesundheitsprganisation, die möglicherweise anfänglich viel zu langsam auf der Pandemie reagierte, ist die Zeit sich nicht gekommen, um die Gesundheitsfürsorge an internationalen Gremien auszulagern. Die derzeitige multinationale Konkurrenz für ein Impfstoff – BBC berichtet von über 40 realistische Kandidaten, die derzeit getestet werden – ist ein Beweis, dass die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith noch immer wirksam ist. Da infektiöse Krankheiten wie Covid-19 nicht zwischen arm und reich unterscheiden, lässt sich vermuten, dass das ökonomische Eigeninteresse diesmal für eine allgemeine, sgn. Gerechte Verteilung des Impfstoffs fördern wird.
Dennoch ist nicht zu leugnen, dass es unserer Welt, insbesondere unserer politischen und ökonomischen Kultur nicht besonders gut geht. Unsere globale Gesellschaft ist tatsächlich zersplittert, und das traurige Musterbeispiel bilden die Vereinigten Staaten, in der seit 20 Jahren die politische Polarisation immer extremer wird. Immer weniger Initiativen werden von Mitglieder beider Parteien getragen. Trump hat diese Spannungen nicht verursacht, sondern ist ein Symptom dieser Polarisierung, auch wenn er mit seinen Tweets die Polarisierung nicht versucht hat einzudämmen. Die immer extremer werdende Polarisierung der Gesellschaft wird zum Teil durch soziale Medien und ihr Echo-Chamber-Effekt verursacht und manifestiert sich ebenfalls in Europa und anderswo auf der Welt. Wir reden immer weniger miteinander und immer mehr an einander vorbei, sei es denn, wir reedn mit Gleichggesinnten.
Das es schwer fällt, eine breit getragene Politik zu gestalten für den Umweltschutz, für die Bekämpfung von sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten und / oder für die Bekämpfung der Pandemie, eher es wirksame Impfstoffe gibt, sind alles Folgen der politischen und sozialen Zersplitterung der Gesellschaft. Da bietet das Judentum ebenfalls Denkanstosse, auch wenn nicht alle zu die Schlussfolgerungen Franziskus führen. Einerseits bieten Schemitta und Jowel ein Modell für die Milderung der Exzessen des Kapitalismus, ohne ihn irgendwie abzuschaffen. Im Schemitta-Schabbatjahr waren alle Felder offen und konnten auch die Arme das feinste Obst essen – Schnuppererfahrungen lassen Menschen träumen und motivieren die wirtschaftliche Produktivität. Am Ende des gleichen Jahres wurden die Schulden, die nicht bezahlt werden konnten, aufgehoben – ohne Möglichkeiten für einen Neuanfang bekommen zu viele Menschen keine gleiche wirtschaftliche Chancen. Jede 50 Jahre – während des Jowels – gingen alle Sklaven frei und kehrten die Felder und die Häuser in nicht von einer Mauer umringten Städte zur ursprünglichen Familie zurück – wenn wir eine solide Mittelschicht wollen, dann ist es unentbehrlich, dass Wohnungen bezahlbar und Möglichkeiten für den wirtschaftlichen Aufstieg allen offen bleiben. Die Sklaverei kennen wir G“tt sei Dank heutzutage nicht mehr, aber viel zu viel Menschen leben in solchen prekären Umständen und verdienen so wenig, dass ihre Existenz sich kaum von Sklaverei unterscheidet. Und den kriminellen Menschenhandel gibt es noch immer.
Die Tora wünscht sich mehr solidarität, anders aber als der Papst sieht sie diese Solidarität nicht in der Aufhebung der nationalen Identitäten. Auch nach dem Kommen des Maschiachs sprechen verschiedene Propheten Israels von einer Zukunft mit vielen Völkern.
Die Wohltätigkeit wird im Judentum primär als Solidarität mit den einem nahe Stehenden verstanden („die Arme deiner Stadt kommen zuerst“, Talmud Bawa Mezia 71a), nicht, weil wir keine Solidarität mit weit entfernten Menschen haben sollen, sondern weil wenn wir alle die Verantwortung für die Arme unserer jeweiligen Gesellschaften übernehmen, dann bleibt keiner alleine. Der Traum ist ähnlich, der Weg dorthin ein anderer; der jüdisch-prophetische Weg erscheint mir realistischer.