Das korrumpierende Böse

DeutschWenn das Böse in reiner, ungemilderter Form auftritt, ist es abschreckend, verabscheuungswürdig und abscheulich. Wir scheuen vor der Begegnung mit diesem Bösen zurück, das wir mit unserem angeborenen inneren moralischen Auge leicht erkennen. Die schlimmsten Scheusale der Geschichte – sei es Par‘ó, ‘Amalék, Sanchèriw, Newusaradán, Hamán, Chmelnizki, Stalin oder Hitler – sind so abschreckend, dass wir keine Spur von Sympathie für sie haben und schwer verstehen können, wie sie überhaupt Einfluss haben konnten – obwohl sie tragischerweise tatsächlich Menschen dazu brachten, sich an ihren bösen Taten zu beteiligen. Ist das reine Böse das grösste Übel, das uns und unsere Gesellschaft zu korrumpieren droht, oder kann es auch ein geringeres, aber doch gefährlicheres Übel geben, das droht, das Gefüge einer moralischen Gesellschaft zu zerstören?

Zu den physischen Symptomen der spirituellen Krankheit Zará‘at lesen wir unter anderem:

וְאִם פָּרוֹחַ תִּפְרַח הַצָּרַעַת בָּעוֹר וְכִסְּתָה הַצָּרַעַת אֵת כָּל עוֹר הַנֶּגַע מֵרֹאשׁוֹ וְעַד רַגְלָיו לְכָל מַרְאֵה עֵינֵי הַכֹּהֵן: וְרָאָה הַכֹּהֵן וְהִנֵּה כִסְּתָה הַצָּרַעַת אֶת כָּל בְּשָׂרוֹ וְטִהַר אֶת הַנָּגַע כֻּלּוֹ הָפַךְ לָבָן טָהוֹר הוּא: וּבְיוֹם הֵרָאוֹת בּוֹ בָּשָׂר חַי יִטְמָא:

Bricht aber der Aussatz in der Haut weiter hervor, und der Aussatz bedeckt die ganze Haut des Schadens, vom Kopf bis zu den Füssen, so weit die Augen des Kohen sehen, und sieht der Kohen, und siehe, der Aussatz bedeckt das ganze fleisch, so muss er den Schaden für rein erklären; er hat sich ganz in weiss verwandelt, er ist rein. An dem Tage aber, an dem daran gesun­des fleisch gesehen wird, wird er unrein. (Wajikrá 13:12-14)

Während ein kleiner fleck von Zará‘at einen Menschen tamé’ („rituell unrein“, vgl. “Was sind Tum’á und Tahará?”) macht, bleibt er merkwürdigerweise tahór („rituell rein“), wenn der ganze Körper befallen ist. Wenn sich aber an dem Menschen, dessen ganzer Körper befallen ist, auch nur ein kleiner fleck normaler Haut zeigt, wenn er also scheinbar gesünder ist, dann ist er wiederum tamé’!

Warum gilt der vollständige Befall des Körpers nicht als ein Zeichen von tum’á? Und warum genügt ein kleiner fleck normaler Haut, um den Betreffenden doch tamé’ zu machen?

Der Chatám Sofér (R’ Moschè Schreiber / Sofer, in Torát Moschè z.St.) erklärt, dass Zará‘at auch ein Symbol des Bösen ist. Ein Körper, der vollständig befallen ist, ist so vollkommen abstossend, dass wir nicht in Gefahr sind, durch diese Person korrumpiert zu werden. Gefahr besteht jedoch bei einem Körper, der zwar einige oder viele Zeichen des Bösen zeigt, aber auch gute Qualitäten aufweist. Daher stuft die Torá einen Menschen, der befallen ist, aber auch noch gesunde Haut hat, als tamé’ ein.

Das wiederholte Auftreten schlimmster Verbrecher auf der Weltbühne lag zwar im Rahmen des Möglichen, war aber die Ausnahme und nicht die Regel. Sie haben zwar Völkermord begangen oder es – im Fall von Hamán – nach Kräften versucht, aber ihr schädlicher Einfluss zeigte sich im Wesentlichen in einer begrenzten, wenn auch höchst tragischen Zeitspanne. Das Böse, das sie verkörpern, ist gefährlich, und wir dürfen es nicht vergessen, aber es ist begrenzt. Es ist begrenzt, weil wir alle die Fähigkeit haben, es zu erkennen. Wir sind gut dafür ausgerüstet, seinem korrumpierenden Einfluss zu wider­stehen. Niemand würde Hitler יש”ו für einen Berditschewer Rebbe halten (der sich dadurch auszeichnete, dass er in allem das Gute sah und immer versuchte, sich bei Gott für alle Juden einzusetzen).

Ein geringeres Übel kann jedoch, obwohl es tatsächlich geringer ist, allgemeiner und dauerhafter korrumpieren, weil es mit positiven Eigenschaften vermischt ist.

Da kann im Iran ein Hamán aufkommen, der keinerlei positive Eigenschaften hat – aber sein Land kann Öl und Erdgas liefern, und plötzlich erfindet man in unterschiedlichsten Regierungen unzählige Entschuldigungen, um die Existenz dieses höchst verwerflichen Mannes zu entschuldigen und sein Regime durch Handels­beziehungen zu unterstützen.

Das jüdische Verständnis des Bösen beschränkt sich nicht auf die politische Ebene, sondern ist ebenso auf der persönlichen und somit auch auf der gesellschaftlichen Ebene zu erkennen. Das Böse äussert sich nicht nur in schlimmsten Menschheitsverbrechen, sondern auch in finanzieller, sozialer und sexueller Unmoral. Daher ist es auch auf der persönlichen Ebene unsere Aufgabe, jenes Böse (selbst wenn es mit scheinbar guten Qualitäten verwoben ist) zu erkennen und uns davon zu distanzieren. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist voller guter Werte – und voll von Übel. Die beiden Kräfte sind miteinander vermischt, aber uns ist am Ende des Wochenabschnitts Scheminí befohlen worden: לְהַבְדִּיל בֵּין הַטָּמֵא וּבֵין הַטָּהֹר ‘zu unterscheiden zwischen dem Unreinen und dem Reinen’ (Wajikrá 11:47).

Sind die diversen Ausdrucksformen unserer Gesellschaft – im Bereich von Literatur, Musik, Theater und film, Kunst, gesprochenem Wort usw. – wertneutral? Verkörpern sie das reinste Gute oder das abscheulichste Böse? Oder sind in ihnen nicht vielmehr gute und schechte Werte miteinander verbunden? Sind die sozialen Anlässe unserer Gesellschaft – z.B. sportliche oder kulturelle – wertneutral? Sind die zwischenmenschlichen Verhaltensmuster, die unsere Gesell­schaft vorschreibt, wertneutral? Oder enthalten sie nicht ebenfalls eher eine Mischung von Gutem und Schlechtem? Zum gleichen Ergebnis führt eine Analyse unserer Berufskulturen, unserer Lern­kulturen und  medien und anderer Aspekte unserer Gesellschaft.1

Das Leben ist grösstenteils weder schwarz noch weiss, sondern grau. Wie gehen wir mit dieser Grauzone um? Sind wir so naiv zu meinen, dass wir uns an wirklich allem beteiligen können, ohne bei der Trennung zwischen dem Gutem, das wir geniessen dürfen, und dem Bösen, das wir ablehnen müssen, auch nur einmal zu scheitern? Wir haben in uns nicht nur kulturelle Siebe, sondern wir sind auch kulturelle Schwämme. Wir trennen nicht nur, sondern nehmen auch wahllos auf. Daher befiehlt die Torá, dass wir zwischen dem Reinen und dem Unreinen unterscheiden sollen. Diese Anordnung sowie die Ideen, die hinter den Ge  und Verboten bezüglich Zará‘at stehen, sollen uns zu der Erkenntnis führen, dass manche kulturellen Vermischungen zwar koscher sind – בֹּהַק הוּא פָּרַח בָּעוֹר טָהוֹר הוּא ‘so ist es ein Ausschlag [und nicht Zará‘at], der an der Haut ausgebrochen ist, er ist rein’ (Wajkrá 12:39) –, andere kulturelle Vermischungen aber schlecht und böse bleiben, ein Aussatz, Zará’at!

Die Mischung von Gutem und Bösem in der Welt, in der wir leben, ist insgesamt nicht unbedingt koscher, nicht unbedingt gut. Sie ist vielleicht sogar eine Korrumpierung.

Wir, denen aufgetragen ist, ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk zu sein – מַמְלֶכֶת כֹּהֲנִים וְגוֹי קָדוֹשׁ –, streben Reinheit und Heiligkeit an. Wir tun gut daran, nach den koscher aussehenden gespaltenen Hufen des Schweins Ausschau zu halten, dem Parade­beispiel eines unkoscheren Tiers. Nicht alles in der Welt um uns herum ist von Zará‘at befallen, aber manches ist es. Um unserer selbst willen und um unserer Kinder und Enkel willen sollten wir jeden Aspekt unserer Umwelt, unserer kulturellen Erfahrung einer Analyse unterziehen und das, was wirklich gut ist, von dem unterscheiden, was nur so aussieht, aber in Wirklichkeit korrumpiert. Mögen wir unser Ziel als מַמְלֶכֶת כֹּהֲנִים וְגוֹי קָדוֹש wirklich erreichen!

Arie Folger,
Paraschát Tasría‘,
29. Adár II 5768 (5. April 2008)

Fussnoten

1Kultur schliesst in diesem Sinne nicht nur die Hochkultur, nicht nur die Massenkultur, sondern die ganze Bandbreite menschlicher Ausdrucksformen und zwischenmenschlicher Beziehungen ein. Siehe dazu den Aufsatz dieses Authors „Culture, a Basis for Torah?“.

Leave a Reply

Fill in your details below or click an icon to log in:

WordPress.com Logo

You are commenting using your WordPress.com account. Log Out /  Change )

Twitter picture

You are commenting using your Twitter account. Log Out /  Change )

Facebook photo

You are commenting using your Facebook account. Log Out /  Change )

Connecting to %s

%d bloggers like this: