Der Gebetstourist

DeutschWas hat das folgende Thema mit Pèssach zu tun? Na ja, wie kann man, nach dem das Publikum bereits acht Tage Matzen isst, noch während einer Rede wach halten? Der Frühling wird gespürt, und die Leuten traumen doch bereits von den Sommerferien, die sie längst planen, also bleiebn sie erst wach, als wir zusammen von den Ferien traumen dürfen. So entstand die Predigt “Der Gebetstourist”, wobei hoffentlich nachher die Interesse wachst, auch zum 8. mal an Jomtov mit Konzentration und Ernst, aber auch mit Freude und Jubelgesang das Gebet zu beleben.

–Arie Folger, 3. März, ’09

Der Gebetstourist1

David ha-Mèlech äusserte den berühmten Wunsch: שִׁבְתִּי בְּבֵית ה’ כָּל־יְמֵי חַיַּי לַחֲזוֹת בְּנֹעַם ה’ וּלְבַקֵּר בְּהֵיכָלוֹ ‘zu weilen im Hause Gottes alle Tage meines Lebens, zu schauen das Herrliche Gottes und zu besuchen Seinen Tempel’ (Tehillím 27:4). David ha-Mèlech wollte sich regelmässig im Heiligtum Gottes aufhalten, aber er befürchtete, dass die Gewohnheit sein Gefühl der Ehrfurcht vor Gott abstumpfen lassen könnte. Daher betete er dafür, gleichzeitig wie einer zu bleiben, der Seinen Tempel lediglich „besucht“.

Der Besucher, der Tourist empfindet Ehrfurcht, wenn er einen Ort besucht, den er noch nicht gesehen hat. Zugleich Bewohner und Besucher zu sein, bedeutete für David ha-Mèlech, das Gefühl der Ehrfurcht vor dem Allmächtigen zu bewahren, obwohl er ständig im Schatten der göttlichen Gegenwart Zuflucht suchte.

David ha-Mèlech hat aber wohl kaum gemeint, dass wir Gebetstouristen sein sollten – und wir alle neigen manchmal dazu, das zu sein.

Was ist ein Gebetstourist?

Nun, was ist ein gewöhnlicher Tourist? Jemand, der die Welt sehen will. Er reist von Ort zu Ort, besucht alle Sehenswürdigkeiten … und fährt weiter. Eine solche Erfahrung ist sicher bereichernd, aber kennt ein Tourist, der Paris in 72 Stunden „abhakt“, diese Stadt? Weiss jemand schon, wie es sich in Basel lebt, wenn er sich vor dem Tinguely-Brunnen, an der Schifflände, am Markplatz und vor unserer Synagoge photographieren lässt und ein paar Stunden im Kunstmuseum und in der Fondation Beyeler verbringt? Bestenfalls hat er eine ganz schwache Ahnung davon.

Mit den Gebetstouristen ist es ähnlich. Egal, welcher Tag es ist, suchen sie immer das, was gerade anders ist. Gemäss diesem unausgesprochenen Prinzip ist Mussáf ihr Lieblingsgebet, weil man es an Wochentagen nicht sagt. An Jom Tow kann vielleicht Hallél noch Vorrang vor Mussáf bekommen, weil es an gewöhnlichen Schabbatót nicht gesagt wird. Die Mizwá, auf die sie ihr Augenmerk richten, ist unweigerlich diejenige, die für diesen Tag charakteristisch ist, Mizwát ha-Jóm. An Rosch ha-Schaná geht es um das Schofár, an Jom Kippúr um Kol Nidréj und Ne‘ilá, an Sukkót um die Hakafót mit Luláw und Etróg, an Simchát Torá um diejenigen mit der Sefèr Torá, an Chanukká um die Lichter und an Purím um die Lesung der Megilá. Schawu‘ót ist in Ermangelung einer besonderen Mizwá ein Problem und bleibt ein zweitrangiger Feiertag, obwohl man ihn auch als Fest des Käsekuchens (oder in Basel als Fest des Bienenstichs) kennt.

Natürlich ist auch der Bienenstich wichtig, und umso mehr alle die erwähnten Gebete und Mizwót, die für den jeweiligen Tag kennzeichnend sind. Natürlich sind auch der Neuigkeitsfaktor, den der Feiertag dadurch bekommt, und die dadurch erzeugte Spannung wünschenswert. Nicht umsonst sagen wir zum Beginn eines jeden Feiertags den Sche-hechijánu-Segensspruch. Die Feiertage sind Zeiten der Freude, und die Mizwót ha-Jóm spielen dabei eine bedeutende Rolle.

Sind wir aber mit unseren Gebeten gründlich vertraut, wenn wir uns nur auf die Höhepunkte konzentrieren? Die Höhepunkte des Machsórs im Jahreskreis sind wie die beliebten Touristen-Attraktionen. Sie sind der Eiffelturm, das Empire State Building und der Pilatus der Gebete. Sie sind schön und eindrucksvoll, aber sie sind nur Höhepunkte. Sie sind der Guss auf dem Kuchen, das Dessert nach der Mahlzeit.

Jemand, der immer nur Tourist gewesen ist, ist nirgendwo zu Hause, und jemand, der nur Dessert isst, wird nach einer Weile merken, dass seine Mahlzeiten nicht sehr ausgewogen sind – und sein Bauchumfang wird es schwer machen, diese traurige Tatsache zu leugnen.

Auch unsere Seele wird nicht von Höhepunkten allein spirituell satt. Sie sucht Nähe zu ihrem Schöpfer.

Die Höhepunkte im Gebet sind auch wie ein Happy Birthday, das alle Partygäste singen. Es ist schön und rundet die Feier ab, aber es wäre höchst unhöflich, in jemandes Geburtstagsfeier hineinzuplatzen und mit den Gästen Happy Birthday zu singen, ohne das Geburtstagskind zu begrüssen und ein paar nette Worte zu sagen. Was für einen Eindruck machen wir mit unserem Gebet, wenn wir nachdem wir zu spät zum Gebet gekommen sind, alles auslassen, was in unserer Abwesenheit gesagt wurde, und sofort mit dem Chor Wajhí binsó‘a ha-Arón mitsingen, was übrigens keineswegs einer der wichtigsten Teile des Gebets ist?

Egal wie viel oder wenig, wie oft oder selten wir beten, hängt die Wirksamkeit unseres Gebets zweifellos davon ab, wie und was wir wann beten.

Unsere Weisen lehren uns תָּדִיר וְאֵינוֹ תָּדִיר, תָּדִיר קוֹדֶם – wenn wir zwei Mizwót vor uns haben, eine, die regelmässig wiederkehrt, und eine, zu der wir nur selten Gelegenheit haben, so erfüllen wir im Allgemeinen die regelmässige Mizwá zuerst. Beispielsweise beten wir zuerst Schacharít und erst dann sagen wir Hallél. Das wurde nicht etwa deshalb so eingerichtet, damit die Zuspätkommer das scheinbar wichtigere Hallél nicht verpassen, sondern deshalb, weil das tägliche Schacharít wichtiger ist. Das gewöhnliche Schacharít enthält übrigens eine Art von Hallél: die Pessukéj de-Simrá, die Lobverse, mit denen wir Gott für seine kaum bemerkten, aber nicht weniger wichtigen täglichen Wunder danken. Diese Hallél kommt vor dem festlichen Hallél. Über das tägliche Hallél sagte Rabbi Jossi: יהי חלקי עם גומרי ההלל בכל יום ‘möge mein Teil unter denen sein, die jeden Tag das Hallél vollenden [die letzten Kapitel Tehillím sagen2]’ (Talmúd Bawlí, Schabbat 118b).

‘Am Jissra’él in seiner Beziehung zu Gott wird in Schir ha-Schirím als eine geliebte Frau dargestellt, deren Liebster sich nach ihr sehnt, und nach dem sie sich sehnt. Ein Ehepaar kann keine stabile Ehe führen, wenn sich die Kommunikation zwischen Mann und Frau auf Geburtstagskarten oder Festessen am Hochzeitstag beschränkt. Die alltäglichen Gespräche, das Zusammensitzen bei gewöhnlichen Mahlzeiten und die gemeinsame Wohnung sind es, die Liebe stärken. Das gilt auch für die kosmische Liebe zwischen Gott und Israel. So wie man sich nicht durch eine Ehe hin- und herreisen kann wie ein Tourist, der fremde Städte besucht, so ist auch die Beziehung zu Gott und damit die Gesundheit der eigenen Seele in Gefahr, wenn sie nur durch das Aussergewöhnliche genährt wird. Die Beziehung zu Gott erfordert die alltäglichen Gespräche, die täglichen, regelmässigen Rituale von Pessukéj de-Simrá, Schma‘ Jissra’él und Schemonè ‘Essréj.

1Predigt des 8. Tag Pèssach 5768 (27. April ’08)

2Diese bilden ein wesentlicher Bestandteil der Pessukéj de-Simrá.

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