Es sind mittlerweile wohl drei Jahre vorbei, seit ich diese Worte schrieb, und seither habe ich nicht mehr von Schuluniformen in der Schweiz gehört, obwohl ich vielleicht einfach schlecht informiert bin. Immerhin bleibt die Analyse des Begriff Freiheit weiterhin relevant, und werden wir weiterhin dauernd bedroht, statt wahre Freiheit nur einen Schatten der Freiheit zu haben, und an Mode und Trends versklaft zu sein. Die Torá aber zeigt uns weiterhin den Weg der wahre menschliche Freiheit und Entfaltung.
— Arie Folger, 3. April ’09
Die wahre Freiheit1
Jedes Jahr sprechen wir am Sederabend die Worte וְאִילוּ לֹא הֹצִיא הַקָדוֹשׁ בָּרוּךְ הוּא אֶת אַבוֹתֵינוּ מִמִצְרַיִם, הַרֵי אָנוּ וּבָּנֵינוּ ובְּנֵי בָנֵינוּ מְשֻׁעְבָּדִים הָיִינוּ לְפַרְעֹה בְּמִצְרָיִם – „Und hätte der Heilige, gepriesen sei Er, unsere Vorfahren nicht aus Ägypten herausgeführt, dann wären wir und unsere Kinder und unsere Nachkommen in Phar’o Ägypten versklaft“. Ist es tatsächlich so? Vielleicht zweifeln wir daran, denn wir merken nicht, dass es auch heute möglich ist, dass es an Freiheit fehlt. Heute aber, werden noch immer Diskussionen geführt z.T. Was ist wahre Freiheit. Nehmen wir die folgende Geschichte als Beispiel.
Seit dem Schuljahr 2004-05 setzen sich Schulleitungen in der Schweiz aktiv mit Schuluniformen auseinander.2 Nun testet die Basler Weiterbildungsschule Leonhard zwei Monate lang solche Uniformen. Eine breitere Diskussion zu diesem Thema wird jetzt in verschiedenen Schulen geführt. Als Vorteil von Schuluniformen wird genannt, dass sich die Schüler besser konzentrieren können, wenn sie keine aufreizende Kleidung zu sehen bekommen, und dass der Druck, teure Markenartikel zu kaufen, vorübergehend verschwindet. Gegner wie der Dachverband Schweizer Lehrer und Lehrerinnen behaupten, dass Uniformen die Individualität der Schülerinnen und Schüler unterdrücken. Befürworter der Schuluniformen halten dem entgegen, dass es vielmehr der Markendruck ist, der die Individualität einschränkt.3
Solche Argumente sind uns nicht fremd. Dahinter steht die Frage nach dem Wesen der Freiheit, also zum Beispiel: Unter welchen Bedingungen sind Menschen richtig frei?
Die Geschichte vom Auszug aus Ägypten wird oft als eine physische Befreiung aus der Sklaverei beschrieben, מֵעַבְדוּת לְחֵירוּת. In diesem Zusammenhang bedeutet Freiheit die Befreiung von rechtlicher Vorherrschaft. Die Möglichkeit, nach Belieben zu konsumieren, ist sicherlich eine Art von Freiheit. Vor allem Menschen, die Unterdrückung und Mangel erfahren haben, werden eine solche Freiheit sehr wichtig finden. Beispielsweise begrüssen die Chinesen, die unter kommunistischer Herrschaft leben, die Öffnung des chinesischen Marktes für westliche Waren, denn diese Waren repräsentieren eine Freiheit, die vor fünfzehn oder zwanzig Jahren noch ganz undenkbar war. Damals gab es bei der Kleidung nur zwei Varianten, eine für Männer und eine für Frauen, und das einzige private Transportmittel war das Velo.
Gemessen an der früheren Unterdrückung ist ein solcher Mensch, der jetzt in dem Konsum schwelgen kann, den der freie Markt anbietet, in der Tat frei – oder besser gesagt, freier. Ist er aber wirklich frei? Wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der Bedürfnisse geweckt werden, um die Umsätze und Profite grosser Konzerne zu steigern, ist man dann freier als ein Sklave? Wenn wir durch geschicktes Marketing mit den raffiniertesten und wirksamsten Werbekampagnen nach den neuesten psychologischen Erkenntnissen beeinflusst und schon fast manipuliert werden, so dass wir uns kaum noch dagegen wehren können, Trends und Moden zu folgen, sind wir dann vielleicht – nur vielleicht – sogar mehr versklavt als der Leibeigene, der immerhin noch wahrnimmt, dass er unterdrückt ist?
Wir sollten vorsichtig sein und Gruppendruck nicht mit grausamer Unterdrückung gleichsetzen. Es sind schon recht verschiedene Phänomene. Aber wir sollten nicht übersehen, dass es auch in einer freien Gesellschaft an Freiheit fehlen kann.
Gute literarische Werke halten den Leser oft bis zum Ende in Spannung und bieten erst dann eine Auflösung. Auch gute Sachbücher setzen ähnliche Techniken ein, um bestimmte Ideen zu entwickeln. Wenn wir dieses Modell auf die Torá anwenden, können wir uns fragen, auf welchen Höhepunkt sie zusteuert.
Die Torá stellt sich als ein kunstvolles Gewebe aus historischer Erzählung und Geboten dar. Welches dieser Gebote drückt die höchste Erwartung, das höchste Ziel für den Menschen aus? Die Torá lehrt uns unsere Geschichte von der Erschaffung der Welt über das Zeitalter unserer Vorväter, unseren Aufenthalt in Ägypten und den Auszug aus Ägypten bis zu unserer Ankunft an den Grenzen des Landes Israel. Und dann sagt Moschè zu unseren Vorfahren: רְאֵה נָתַתִּי לְפָנֶיךָ הַיּוֹם אֶת־הַחַיִּים וְאֶת־הַטּוֹב וְאֶת־הַמָּוֶת וְאֶת־הָרָע ‘Siehe, ich habe dir heute das Leben und das Gute und auch den Tod und das Schlechte vorgelegt’.4 Nachdem er uns Hunderte von Geboten gelehrt hat, fasst Moschè alles in diesem einen Satz zusammen. Der Mensch erreicht nicht dadurch Vollkommenheit, dass er irgendein bestimmtes Gebot befolgt, sondern dadurch, dass er seinen freien Willen ausübt. Aber wir müssen genau lesen! Ist jede Ausübung des freien Willens ein Ausdruck von Grösse? Die Torá betont im selben Abschnitt sehr klar: וּבָחַרְתָּ בַּחַיִּים ‘du sollst das Leben wählen’.
Freier Wille ist nicht ein verwirklichter, erreichter Zustand, sondern ein Potential, eine Quelle von Energie. Er ist das höchste Gut, in das der Mensch sein Leben investieren kann. Aber es ist eben ein Potential. Freier Wille ist nicht viel wert, solange man ihn nicht ausübt – und zwar weise. Wir sind uns bewusst, welches Niveau von Willenskraft nötig ist, um der Versuchung zu widerstehen, zu stehlen oder Streit und Uneinigkeit zu fördern. In solchen Fällen wählen wir eine Handlungsweise, die sich von der anderen Alternative wesentlich unterscheidet. Wenn wir nicht stehlen oder mehr noch, wenn wir einen Fundgegenstand zurückgeben, ist das das Gegenteil von Stehlen. Wenn wir trotz Anfeindungen freundlich und höflich bleiben, ist das etwas ganz anderes, als wenn wir sofort die Möglichkeit ergreifen, andere zu diffamieren. Kann man es aber auch als eine ebenso anerkennenswerte Ausübung unseres freien Willens bezeichnen, wenn wir als Verbraucher zwischen Bananen und Erdbeereis, zwischen einer Handtasche von Prada und einer von Gucci, zwischen einem Porsche und einem Jaguar wählen?
Statt das Richtige und das Gute zu wählen, wählen wir oft zwischen ähnlichen Konsumgütern. Der moderne Mensch ist ein Homo oeconomicus, der ständig Konsumbedürfnisse und möglichkeiten abwägt. Aber das darf man nicht mit freiem Willen gleichsetzen. Und manchmal trüben unsere von der Werbung erzeugten Bedürfnisse sogar unsere Fähigkeit, zu verstehen, was freier Wille eigentlich bedeutet – und das schränkt unser Potential als Menschen ein. Der Sklave kann seinen freien Willen nicht ausüben, er kann seinen Wunsch nach einer besseren Welt kaum verwirklichen, denn seine Hände sind ihm durch seinen Herrn gebunden. Aber auch der Konsum-Mensch kann seinen freien Willen nicht ausüben. Er vergleicht nur das Vergnügen, jetzt zu konsumieren, mit der Chance, zu investieren und dadurch in der Zukunft mehr zu konsumieren. Die Kosten des Konsums an sich berücksichtigt er jedoch nicht.
Und so beeinträchtigt es uns vielleicht wirklich als Menschen, wenn wir mit Werbebotschaften überhäuft werden und unsere Bedürfnisse immer neue Bedürfnisse erzeugen. Vielleicht verringert sich wirklich mit jedem Einkauf unser Selbstwert ein wenig.
Das plädiert nicht für ein asketischen Leben, aber wir können die Ausübung des freien Willens, das וּבָחַרְתָּ בַּחַיִּים, mehr betonen als unseren Konsumdrang. Wir sollten uns bewusst gegen den Druck wehren, uns den Wünschen der grossen Werbemaschinerie des Freien Markts anzupassen. So können wir den freien Willen und unsere Fähigkeit, ihn auszuüben, wieder erlangen. Vielleicht wird uns dabei klar, dass diejenigen, die sich z.B. nach der neuesten, oft provokativen oder ordinären Mode kleiden oder in anderer Hinsicht mit dem Trend gehen, das nicht aus einer freien, wohlüberlegten Wahl heraus tun, auch wenn sie gerne glauben, dass sie frei wählen. Vielmehr könnten wir zu dem Schluss kommen, dass die Anpassung an Trends und Moden uns erniedrigen kann und uns tatsächlich öfter erniedrigt, als wir das zugeben möchten.
Moschè verlangte vom Par‘ó
שַׁלַח אֶת עַמִי – ‘lass mein Volk gehen’. Aber dabei blieb er nicht stehen, denn das wäre nur eine halbe Freiheit gewesen. Stattdessen fügte er hinzu וְיַעַבְדוּנִי – ‘und sie sollen Mir [HaSchém] dienen’. Denn Gott zu dienen – trotz Gruppendruck und trotz einer Kultur, die religiösem Wachstum abträglich ist – kann uns am meisten erheben.
Mögen wir an diesem Pessach, beim Seder heute abend nicht nur שַׁלַח אֶת עַמִי erfahren, sondern שַׁלַח אֶת עַמִי וְיַעַבְדוּנִי – frei zu sein für unseren höchsten Dienst.
1Predigt zum 1. Tag Pèssach, 15. Nissán 5766 (13. April 2006)
2Siehe z.B. BaZ vom 21.09.2004, „Zu viel Haut ist unerwünscht in Oberwil“, und BaZ vom 22.09.2004, „Eltern bestimmen die Kleider“.
3Interview mit der Prorektorin der Alten Kantonsschule Aarau, erschienen im Migros-Magazin vom 28. März 2006.
4Dewarím 30:15