Die Hungrigen und die Einsamen, Vorboten der Erlösung1
Bevor wir beim Seder damit beginnen, die Geschichte unserer Befreiung vom ägyptischen Joch zu erzählen, erklären wir bei der Eröffnung des Maggíds2: כָּל דִּיכְפִין יֵיתֵי וְיֵכוֹל, כָּל דִּצְרִיךְ יֵיתֵי וְיִפְסַח ‘jeder, der hungrig ist, komme und esse, jeder, der bedürftig ist, komme und beteilige sich am Pèssach-Opfer’.3
Welchen Zweck hat diese Aufforderung gerade am Anfang von Maggíd? Zwar gibt die Haggadá einen gewissen Hinweis bei der Erklärung des Verses וְהִגַּדְתָּ לְבִנְךָ בַּיּוֹם הַהוּא לֵאמֹר בַּעֲבוּר זֶה עָשָׂה ה’ לִי בְּצֵאתִי מִמִּצְרָיִם ‘und an jenem Tage sollst du deinem Kind erzählen: Um dieses willen hat der Ewige für mich gehandelt, als ich aus Ägypten zog’.4 Dazu bemerkt die Haggadá: בַּעֲבוּר זֶה – לֹא אָמַרְתִּי אֶלָא בְּשָׁעָה שֶׁיֵשׁ מַצָה וּמָרוֹר מֻנָחִים לְפָנֶיךָ „Um dieses willen“ kann man nur sagen, wenn Mazá und Marór vor dir liegen’. Daraus folgt logischerweise, dass es sinnvoll ist, andere zum Pèssachopfer einzuladen, denn nur so können auch die anderen ihre Verpflichtungen zu Maggíd erfüllen. Ausserdem verbietet es die Torá, etwas vom Fleisch des Pèssachopfers übrig zu lassen, und so ist es eine gute Idee, es mit möglichst vielen anderen Menschen zusammen zu essen, um das ganze Fleisch des Opfers noch vor der Chazót haLájla (astronomischen Mitternacht) auf zu essen.
Aber warum muss man dann auch noch erklären, dass alle, die hungrig sind, kommen und essen sollen? Wer sind denn wohl diese hungrigen Gäste, und welche Rolle spielen sie bei Maggíd?
Margenitá Tawá, ein Kommentar zur Haggadá, und der berühmte Rabbi Moschè Sofér (Chatám Sofér) behaupten beide, es seien gewöhnliche Arme. Aber sollten wir denn nicht immer – auch an anderen Jahreszeiten – für sie sorgen? Warum sollten wir sie gerade zum Seder einladen? Darauf antworten beide Kommentare, dass man die endgültige Erlösung beschleunigt, wenn man die Armen speist. Maggíd zu sagen, ist zwar eine eigenständige Verpflichtung, aber diese Erklärung impliziert, dass es nicht nur darum geht, Vergangenes wieder zu erzählen, sondern auch darum, die Pläne Gottes für die Geschichte voranzutreiben: Wir sind ein Volk geworden, als Er uns vom ägyptischen Joch befreite, und wir werden schliesslich erlöst werden, wenn der Maschíach kommt und sich der göttliche Plan zur Aufklärung der Menschheit verwirklicht. Was kann also schöner und passender sein, als Maggíd mit einer Aufforderung einzuleiten, die Geulá Schelemá, die endgültige Erlösung, zu beschleunigen. …
כִּי־מָלְאָה הָאָרֶץ דֵּעָה אֶת־ה’ כַּמַּיִם לַיָּם מְכַסִּים
denn die Erde wird voll sein von der Erkenntnis des Ewigen, wie die Wasser das Meer bedecken. (Jescha‘jáhu 11:9)
Zwei andere Kommentare, Chemdát Jissra’él und Ja‘awéz, gehen noch einen Schritt weiter. Im Unterschied zu Sukkót, das durch die siebzig Stiere, die für alle Völker der Welt geopfert werden, einen universalistischen Aspekt hat, geht es an Pèssach ganz um das jüdische Volk – wir sollen über die jüdische Situation nachdenken, über jüdisches Leid und jüdische Erlösung. Das drückt sich auch in dem Verbot aus כָּל־בֶּן־נֵכָר לֹא־יֹאכַל בּֽוֹ „kein Fremder (Nichtjude) darf davon (vom Pèssach-Opfer) essen’.5 Aber trotzdem, so sagen diese Gelehrten, sind wir aufgefordert, Frieden zu mehren, und weil wir die hungrigen Juden speisen müssen und sie das Korbán Pèssach mit uns essen werden, haben wir auch eine Verpflichtung, die nichtjüdischen Armen zu unterstützen. Weil sie vom Korbán Pèssach nicht essen dürfen, geben wir ihnen andere Speisen und laden sie ein, mit uns zu feiern. Wie dem auch sei, stimmen Chemdát Jissra’él und Ja‘awéz zu, dass es für die Erfüllung der Pflicht von Maggíd wesentlich ist, die jüdischen Armen einzuladen.
Aber nun sagen Sie mal, brauchen wir nur beim Seder Erlösung? Ist die Situation der Juden so bequem, dass wir gar keine Erlösung mehr brauchen? Sind alle Armen gespeist? Haben alle, die im Geiste arm sind, die geistige Nahrung der Torá bekommen, die ihre Seele so begehrt? Ist für alle gesorgt, die Freundschaft und Wärme brauchen? Haben wir aufgehört, Kriege zu führen? Gibt es keinen tödlichen Hass mehr? Führen wir, statt mit Feinden zu kämpfen, nur noch מִלְחַמְתָּהּ שֶׁל תּוֹרָה – den, bildlich gesprochen, „Krieg“ zwischen Gelehrten, die in die Tiefen unserer Weisheit vordringen? Leider wissen wir nur allzu gut, dass wir in einem Zustand von גָּלוּת, von Exil leben.
Also dürfen wir mit gutem Grund fragen: Sollen wir nur כָּל דִּיכְפִין יֵיתֵי וְיֵכוֹל, sagen, oder sollen wir das auch praktizieren? Sollen wir das nur beim Seder tun, oder sollen wir uns klar machen, wir sehr andere uns brauchen – und wie sehr wir sie brauchen?
Wir haben in unserer Gemeinde eine wunderschöne Einrichtung, den Gästedienst. Unsere Gemeinde ist in Nah und Fern dafür bekannt, wie sie Fremde auf der Durchreise oder Studenten, die etwas länger bei uns bleiben, willkommen heisst. Wir verdienen es, dass man uns dazu gratuliert und uns darin bestärkt, diese heilige Aufgabe fortzusetzen.
Aber haben wir unsere Verpflichtungen in dieser Hinsicht in vollem Umfang erfüllt? Gibt es keine Menschen, die sich nach unserer Wärme sehnen, deren Sehnsucht aber nicht erfüllt wird, weil sie zu alt, zu arm oder zu krank sind oder einfach nicht zu unseren Freunden gehören? Werden die Armen gespeist und die Einsamen getröstet, wenn wir uns nicht verantwortlich fühlen, weil wir „in dieser Woche nicht dran“ sind – obwohl wir wissen, dass es statt der üblichen zwei auf einmal zehn potentielle Gäste gibt und dass die Familie, die Gästedienst hat, nur vier zusätzliche Stühle besitzt? Wird die Erlösung beschleunigt, wenn der einsame Jude keine Dankesgebete sprechen kann, sondern zu haSchém ruft und fragt, warum er sich ausgeschlossen fühlen muss?
Es lohnt sich auch, darüber nachzudenken, was הַכְנָסַת אוֹרְחִים, Gastfreundschaft, bedeutet. Soll es uns genügen, diejenigen einzuladen, deren Gesellschaft wir geniessen? Ist das die Erfüllung der Mizwá? Strengen wir uns dann tatsächlich um der Torá willen an? Oder laden wir vielleicht die anderen eher deshalb ein, um unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen? Geht es hier vielleicht um Selbsterfüllung, statt um Sorge für den Anderen? Andere wirklich zu lieben, andere wirklich willkommen zu heissen, wirklich die Mizwá von הַכְנָסַת אוֹרְחִים zu erfüllen, mag erfordern, dass wir diejenigen einladen, die es brauchen, selbst wenn wir ihre Gesellschaft nicht geniessen – noch nicht.
Mit unserem Gästedienst erfüllen wir eine heilige Pflicht, und es ist sehr schön, dass es ihn gibt. Jetzt ist aber die Zeit, einzusehen, dass unsere Pflicht nicht in einem regelmässigen begrenzten Dienst besteht, sondern durch die Bedürfnisse der Juden um uns herum bestimmt wird. Jetzt ist die Zeit, die Flamme auf dieser schönen Kerze zu vergrössern. Wir alle sollten die Wärme, die wir geben können, mit den Erniedrigten und Einsamen teilen, ob sie zu Besuch kommen oder hier wohnen, ob sie grossartige Gesprächspartner sind oder irgendwie nicht unsere Freunde – oder, richtiger, noch nicht unsere Freunde.
Mögen wir durch vermehrte הַכְנָסַת אוֹרְחִים während des ganzen Jahres sehen dürfen, was Jirmijáhu beschreibt:
לָכֵן הִנֵּה־יָמִים בָּאִים נְאֻם־ה’ וְלֹא־יֵאָמֵר עוֹד חַי־ה’ אֲשֶׁר הֶֽעֱלָה אֶת־בְּנֵי יִשְׂרָאֵל מֵאֶרֶץ מִצְרָיִם׃ כִּי אִם־חַי־ה’ אֲשֶׁר הֶעֱלָה אֶת־בְּנֵי יִשְׂרָאֵל מֵאֶרֶץ צָפוֹן וּמִכֹּל הָאֲרָצוֹת אֲשֶׁר הִדִּיחָם שָׁמָּה וַהֲשִׁבֹתִים עַל־אַדְמָתָם אֲשֶׁר נָתַתִּי לַאֲבוֹתָם׃
Darum, siehe, Tage kommen, sagt der Ewige, da wird man nicht mehr sagen, „es lebe der Ewige, der die Kinder Israels aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat”, sondern „es lebe der Ewige, der die Kinder Israels aus dem Land des Nordens heraufgeführt hat, und aus allen Ländern, in die Er sie verstossen hat“. Und ich werde sie zurückführen auf ihren Boden, den Ich ihren Vorvätern gegeben habe.6
… denn wir werden zusätzlich zu der Erlösung aus Ägypten auch die endgültige Erlösung feiern.
1Predigt zum 1. Tag Pèssach 5767 (3. April 2007)
2Maggíd ist der Teil der Haggadá, in dem wir die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählen.
3וְיִפְסַח heist „sich am Pèssach-Opfer beteiligen“ und nicht, wie es in manchen Haggadót irrtümlich steht, „Pèssach feiern“.
4Schemót/Exodus 13:8
5Schemót/Exodus 12:43
6Jirmejáhu 16:14-15. Dieser Vers lehrt, dass die endgültige Erlösung so aussergewöhnlich sein wird, dass sie selbst den Exodus überschatten wird.