Von Rabbiner S.R. Hirsch, Aus der Mappe eines wandernden Juden:
Wie konnten Sie glauben, lieber N., Ihr Brief würde mich noch in meinen vier Pfählen finden; „der Winter ist vorüber, die Blüten zeigen sich, die Sangeszeit ist da“, und Ihren … duldet es zu Hause? Nein, mein Lieber. Schon als Knabe beneidete ich die Ahnen, wenn mir der Vater sie am Sederabend die Sandalen an den Füßen, die Lenden gegürtet, die Wanderstäbe in den Händen, die Brotbündel auf der Schulter vorführte, und das süßeste Charoßeth hätte ich für einen Trunk Bitterwasser hingegeben, hätte ich vierzig Jahre so mit ihnen im Freien, in der frischen Luft der Wüste wandern können! Glaube ich doch fast, Ihr Stubenhocker alle werdet noch einst dort oben für euer Hocken in der Stube zu büßen haben, und wenn Ihr zum Anschauen der Herrlichkeiten des Himmels Einlaß begehret, wird man Euch fragen: habt Ihr die Gottesherrlichkeiten auf Erden geschaut? Beschämt werdet Ihr dann stammeln: das haben wir versäumt!
Der letzte Satz scheint mir eine frühere Fassung des ihm zugeschriebenen bekannten Satzes “Hast du Meine Alpen gesehen?” Rabbiner Hirsch schreibt fort:
Was waren unsere alten Rabbinen für andere Männer! Wie haben sie in Gottes herrlicher Natur geatmet und gefühlt, gedacht und gelebt! Wie haben sie unseren Sinn für alles Erhabene und Schöne in der Schöpfung wecken wollen! Wie wollten sie aus Morgenstrahl und Abendröte, aus Tageslicht und Schattennacht, aus Sternenschimmer und Blütenschmelz, aus Meeresraschen und Donnerrollen und Blitzesflug uns den Kranz der Verherrlichung unserem Gotte winden lehren; wie wollten sie in jedem Geschöpfe einen Prediger seiner Macht, einen Mahner an unsere Pflicht uns zuführen; zu welcher Gottesoffenbarung haben sie das Buch der Natur uns gemacht!