Die Gedenkstunde der Reichspogromnacht im alten Rathaus in München, 8. Nov. 2012. Und anbei die Ansprache und das Gebet meiner Wenigkeit (Klicken Sie hier »).
Sehr verehrte Frau Dr. Knobloch,
Sehr verehrter Herrn Oberbürgermeister Ude
Sehr verehrte Vertreter aus Religion und Politik,
Sehr verehrte Damen und Herren
Herr Oberbürgermeister Ude hat soeben seinen Wunsch ausgesprochen, dass diese und ähnliche Veranstaltungen keine ritualisierte Gedenkstunden bleiben, nicht nur an die Vergangenheit erinnern sollen, sondern die Gesellschaft dazu anspornen, den Antisemitismus der heutigen Zeit zu erkennen, zurechtzuweisen und Salon-Unfähig zu machen.
Ich schließe mich dem an und möchte bemerken, dass der Psalm, den ich sobald lesen werde, eben diese Besonderheit aufweist, dass seine Verben eben nicht in der Vergangenheit sondern in der Gegenwart konjugiert sind. Wenn wir diesen Psalm heute beten, dann beten wir also nicht nur wegen des Elends der Vergangenheit, sondern wegen der Drohungen von heute.
Meine Damen und Herren, wir, die wir heute hier versammelt sind, gedenken der Opfer der Nazis, aber was war so besonders an jenem Verbrechen? Was unterscheidet den Gräuel der Nazis von den anderen Verfolgungen? Es ist nicht ihre Barbarei, denn auf Barbarei hatten die Nazis kein Monopol. Zahlreiche andere Verbrecher der Geschichte waren genau so barbarisch und unmenschlich wie die Nazis. Oft erwähnen wir in dieser Hinsicht das Ausmaß des Verbrechens – Gewiss gehört die Industrialisierung des Massenmordes zu den besonderen Merkmalen des Nationalsozialismus. Es gibt aber noch eine weitere Besonderheit am Verbrechen des Nationalsozialismus, nämlich, das ausgerechnet in einem Land und auf einem Kontinent, in dem die Bevölkerung von Kunst und Literatur, von Humanismus und Aufklärung geprägt war, in dem die Demokratie zwar jung war, aber an ihr das Ideal des aufgeklärten Monarchen und der Emanzipation vorangegangen war, ausgerechnet in diesem Land der noblen Gedanken und des noblen Geistes, hat sich innerhalb sehr kurzer Zeit mit Unterstützung der großen Mehrheit des Volkes, die sich nicht gegen den Verbrecher gewehrt hat, und mit großem Engagement der führenden und herrschenden Schicht der Bevölkerung ein Regime des Mordes durchgesetzt.
Auch das finde ich in dem Psalm, in dem die Verbrecher einfach sagen „G-tt sieht nicht, der G-tt-Allmächtiger Israels wird nicht darauf achten“. Auch heute gibt es Menschen, die einen gewaltbereiten, gewaltsamen Antisemitismus prägen. Wir müssen unsere Augen offen halten und erkennen, dass diese Antisemiten nicht notwendigerweise die von gestern sind. Sie sind von Rechts oder von Links, oder können manchmal gar nicht in diese politische Beschreibung passen. Doch ist es unsere Aufgabe und die der ganzen Gesellschaft, diesen Antisemitismus zu erkennen und auszuschließen, dass keiner sagen kann „G-tt sieht es nicht“ und deshalb kann ich tun was ich will, ohne jegliche Rechenschaft abgeben zu müssen.
Ich lese nun den Psalm:
G-tt der Rache, o EWIGER,
du G-tt der Rache, brich hervor!
Erhebe dich, du Richter der Erde,
gib den Stolzen ihren Lohn!
Wie lange sollen die Gottlosen, o EWIGER,
wie lange sollen die Gottlosen frohlocken?
Sie halten viele und freche Reden;
stolz überheben sich alle Übeltäter.
Sie knebeln dein Volk, o EWIGER,
und unterdrücken dein Erbteil.
Witwen und Fremdlinge erwürgen sie
und ermorden Waisen;
Und dann sagen sie: «Der EWIGER sieht es nicht,
der G-tt Jakobs achtet es nicht!»
Nehmt doch Verstand an, ihr Unvernünftigen unter dem Volk,
ihr Toren, wann wollt ihr klug werden?
Sollte aber Der das Ohr gepflanzt hat, nicht hören?
Sollte Der das Auge gebildet hat, nicht sehen?
Der die Nationen züchtigt, sollte Er nicht strafen,
er, der die Menschen Erkenntnis lehrt?
Der EWIGER kennt die Anschläge der Menschen,
weiß, dass sie vergeblich sind.
Wohl dem Mann, den du, EWIGER, züchtigst
und den du aus deinem Gesetze belehrst,
ihm Ruhe zu geben vor den Tagen des Unglücks,
bis dem Gottlosen die Grube gegraben wird.
Denn der EWIGER wird sein Volk nicht verstoßen
und sein Erbteil nicht verlassen;
denn zur Gerechtigkeit kehrt das Gericht zurück,
und alle aufrichtigen Herzen werden ihm folgen!
Wer steht mir bei wider die Bösen,
wer tritt für mich ein wider die Übeltäter?
Wäre der EWIGER nicht meine Hilfe,
wie bald würde meine Seele in der Totenstille wohnen!
Sooft ich aber auch sprach: «Mein Fuß ist wankend geworden»,
hat deine Gnade, o EWIGER, mich gestützt.
Bei den vielen Sorgen in meinem Herzen
erquickten deine Tröstungen meine Seele.
Sollte mit dir Gemeinschaft haben der Thron des Verderbens,
der Unheil schafft; durch Gesetz?
Sie greifen die Seele des Gerechten an
und verdammen unschuldiges Blut.
Aber der EWIGER ward mir zur festen Burg,
zum Felsen, wo ich Zuflucht fand.
Und er ließ ihr Unrecht auf sie selber fallen,
und er wird sie durch ihre eigene Bosheit vertilgen;
der HERR, unser G-tt, wird sie vertilgen.
Dieser Psalm fängt mit dem Ruf „G-tt der Rache, o EWIGER, du G-tt der Rache, brich hervor!“, den viele Opfer in ihrem Elend gesprochen haben. Sie wandten sich zu G-tt in der Hoffnung, Er werde ein Wunder tun und sie plötzlich retten. Nur ist das nicht das, was G-tt für die Welt wünscht.
Zwar versprach G-tt, wie es auch im Psalm erwähnt wird, dass Er versichert, dass das Volk Israel überleben wird. Aber wie es überleben wird, dafür erwartet G-tt menschliches Engagement. Viel eher will Er, dass Menschen Verantwortung übernehmen, um das Böse zu vertilgen und die Schwachen und Unterdrückten zu retten.
Lieber Herr Dr. Waigel, Sie haben soeben den Wunsch geäußert, dass morgen früh, jeder Lehrer in ganz Deutschland den Schultag damit anfängt fünf Minuten über das Geschehen zu sprechen. Auch dem möchte ich mich anschließen und betonen, dass damit diese und andere ähnliche Gedenkveranstaltungen die Gesellschaft prägen und nicht nur ritualisierte Gedenkstunden bleiben, dafür dass die einfachen Menschen der Gesellschaft lernen müssen, aufzustehen und zu protestieren, wenn sie Unrecht und Ausgrenzung sehen. Wenn wir und sie lernen Verantwortung zu übernehmen, dann wird keiner mehr sagen können “G-tt wird nicht sehen“.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.