Jom Kippur, eine Begegnung mit G“tt

DeutschIMG_2955Bekanntlich wird Jom Kippur als der heiligste Tag des jüdischen Kalenders betrachtet. Ein Grund dafür, ist, weil er eine Begegnung mit G”tt bildet.

Anbei eine längere Faßung meines letzten Artikels in der Jüdischen Allgemeine. Nur eine Bemerkung. Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik war gebürtiger “Litwak”, bekennte sich also der besonders stark vom Tora-Lernen und Analytik geprägten lithauisch-jüdischen Kultur. Diese heilige Kultur zeichnete sich durch ihre sehr hohe aber gleichtzeitig in der Bevölkerung sehr verbreitete intellektuelle Ausrichtung. Von solchen Leuten erwarten wir eine kompromislose, wissenschaftliche Präzise Talmud-Analytik. Wer hätte erwartet, in einem Litwak solche Dichterkunst und reiche Gefühle, zu entdecken …

Als unsere Vorfahren am Fuß des Berg Sinai standen – und nach dem Midrasch, dort alle unsere Seelen, auch die von uns, die heutzutage leben, anwesend waren – fand eine einzigartige historische Begegnung zwischen Mensch und G“tt statt. Und alles Volk sah den Donner und Blitz und den Ton der Posaunen und den rauchenden Berg. Als nun das Volk solches sah, zitterte es und stand von ferne (2. B.M. 20:18) … und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war ein Boden wie von Saphirsteinen und so klar wie der Himmel selbst (2. B.M. 24:10). Nach unseren Weisen bereitete sich diese Begegnung bereits Wochen früher, als unsere Vorfahren aus Ägypten zogen. Eine einfache Dienerin sah auf dem Meer, als es sich spaltete, was sogar der Prophet Ezekiel in seiner berühmten Vision des himmlischen Reitzeug nicht gesehen hatte (Mechilta und Jalkut Schimoni zum Abschnitt Beschalach).

Die Tora ist die bekannteste Frucht dieser Begegnung, aber auch auf anderen Ebenen bleiben uns Aspekte jenes Zusammentreffen erhalten. Wenn wir in der Synagoge die Tora wieder in die heilige Lade führen, singen wir am Schabbat den 29. Psalm. Das tun wir ebenfalls, wenn wir den Schabbat während des Freitagabendgebetes begrüßen. Die Worte „die Stimme des Ewigen ist stark, die Stimme des Ewigen ist herrlich… sprüht Feuerflammen … erschüttert die Wüste … erschüttert die Wüste Kadesch“ ruft die obige Erscheinung am Berg Sinai, mit Donner, Blitz und rauschendem Berg hervor. Damit versuchen wir räumlich (als der Sefer Tora in den heiligen Schrank zurückgebracht wird) und zeitlich (beim Schabbateingang) die Offenbarung einiger maße neu zu beleben.

Nach dem mittelalterlichen Bibelkommentator Nachmanides waren das Stiftzelt und der Tempel mit ihrem ewigen Feuer auf dem Altar und der Bundeslade, wo G“tt zu Mosche sprach, nichts anderes als die Wiederherstellung und Verewigung des heiligen Begegnungsortes Sinai in der Mitte des jüdischen Volkes in Jerusalem. Das ewige Licht, das nach dem Brauchtum in Synagogen brennt, erinnert ebenfalls an das ewige Feuer auf dem Alter im Tempel – und bildet so ebenfalls eine kleine aber greifbare Verewigung Sinais. Doch was hat das alles mit Jom Kippur zu tun?

Nur Mosche wurde regelmäßig von G“t in das Allerheiligtum gerufen, wo die Bundeslade war. Außerdem durfte keiner in das Allerheiligtum. Keiner? Nein, einer durfte und war dazu sogar beauftragt, einmal im Jahr dort hinzugehen: der Kohen Gadol (Hohepriester) an Jom Kippur. Damit soll Aaron hineingehen in das Heiligtum … Darnach nehme er die Pfanne voll Glut vom Altar, der vor dem Ewigen steht, und eine Handvoll wohlriechenden zerstoßenen Räucherwerks und bringe es hinein hinter den Vorhang; und er tue das Räucherwerk auf das Feuer vor dem Ewigen, damit die Wolke vom Räucherwerk den Sühndeckel (der Bundeslade), der auf dem Zeugnis ist, verhülle (3. B.M. Kap. XVI). Und für die Zukunft gibt es an derselben Stelle folgende Anweisung: Das soll euch zur ewigen Gewohnheit weden, daß ihr für die Kinder Israel Sühne erwirkt wegen allen ihren Sünden, einmal im Jahr (ebd.).

Damit bildet auch Jom Kippur eine Wiederbelebung der Offenbarung von Sinai. Das ganze Volk sah, was bei der Offenbarung zu sehen war, und das symbolisieren der Schabbat und der Ehrenmarsch mit der Tora-Rolle, wenn sie in die heilige Lade zurückgebracht wird. Der Besuch des Kohen Gadols im Allerheiligtum hingegen würde dann die besondere Begegnung Mosches mit G“tt symbolisieren.

Jener Aspekt des Jom Kippur wird aber nicht mehr und nicht nur stellvertretend durch den Kohen Gadol wiederaufgeführt, sondern durch alle Juden, auch wenn nur er in das Allerheiligtum das Wierauch brachte. Wir kleiden uns weiß und versagen uns Essen und Trinken, weil wir an jenem Tag den Engeln gleich sind, die auch weder essen noch trinken, dafür aber durch und durch geistig rein sind. Und wenn wir keine Engel sind, probieren wir es mindestens für fünfundzwanzig Stunden und hoffen, dass uns diese Erfahrung für das kommende Jahr inspiriert und erhebt, damit wir mindestens den Engeln ähnlicher werden. Die geistige Erfahrung steht allen offen, ja sogar die Sinai-Offenbarung.

Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik beschrieb einmal auf Anfrage einigen Le-sern den höchsten Feiertag Jom Kippur und seine Gebete – und zeigte, dass sie auch aus Sicht von Juden sinnvoll sein können, deren Glaube nicht sehr stark ist. Wenn ein Jude an die himmlischen Toren klopft, um in diesen Herbsttagen vor der Morgendämmerung mit den Selichot-Gebeten um Verzeihung zu bitten, oder wenn er das in der geheimnisvollen Heiligkeit der durch liebevolle Wohltätigkeit umhüllten Nacht des Kol Nidre tut, verkündet er damit seinen festen Glauben an die Einheit des Namen G’ttes, in dem er die Einheit der Wissenschaft und Religion, des Kosmos und des Himmels, der Ethik, Moral und Frömmigkeit verinnerlicht.

Nach Soloveichiks Auffassung finden wir im Gebet die Einheit der Natur und der Geistigkeit, der Wissenschaft und der Frömmigkeit. Die Natur, die Umwelt, der Kosmos sind wie ein Allerheiligtum, in dem jeder Mensch G’tt begegnen, jeder Ju-de die Offenbarung am Sinai neu beleben kann. »Schaut der Selichot-Jude durch das Fenster, dann sieht er, wie langsam an der Osten aufleuchtet, wie blutrote Flammen von der aufsteigenden Sonne sich am Himmel entzünden, wie die ganze Landschaft mit Purpur und Gold überzogen wird. Schaut der Jom-Kippur-Jude aus dem Fenster in die Dunkelheit des heiligen Abends, dann sieht er, wie ein zunehmender Mond die Bäume auf dem Synagogenhof mit blassem Licht begießt, die sich bereits so viele Jahren mit den Betenden beim Gebet mitschütteln, und wie er ein silbernes Netz über Häuser und Gärten webt, die am ›Schabbat Schabbaton‹, dem allerhöchsten Schabbat ruhen«, schreibt Soloveitchik.

Die Eindrücke der Gebete zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten verfehlen ihre Wirkung nicht: »Der Jude …. überlege sich also: Die Lichtstrahlen, sowohl die goldenen der Sonne als auch die silbernen des Mondes, erfüllen den gleichen Willen, den ich mit allen anderen Juden verwirkliche – den Willen des Unendlichen, der in uns allen siedet und stürmt. Dann fängt er mit tiefer Konzentration und lauter Stimme an, zu verkünden: ›Kommt, lasst uns dem Ewigen lobsingen und jauchzen dem Felsen unseres Heils! Recht und Gerechtigkeit sind deines Thrones Feste, Gnade und Treue gehen vor deinem Angesicht her. Zusammen pflegen wir süßen Umgang, gehen ins G’tteshaus unter der Menge. ‹« An Jom Kippur bekommen so jedes Detail und jeder Lichtstrahl ihre Symbolik. Sie sind wie Wegweiser und Straßenschilder, die uns den Weg zum Si-nai zeigen können.1

Fußnoten


1Das vollständige Zitat, dass zuerst im jiddischen Tog-Morgen-Zhurnal in New York am 3. Januar 1955 erschien, läutet:

»Als ein Jude an den himmlischen Toren anklopft, um vor der Morgendämmerungen diesen Herbsttagen mit den Selichot-Gebete um Verzeihung zu bitten, oder das in der geheimnisvollen Heiligkeit der in der liebesvolle Wohltätigkeit umhüllte Nacht des Kol Nidrej tut, verkündet er damit zuerst sein feste Glaube an der Einheit des Namen G“ttes. Das heißt, die Einheit des g“ttlichen Willens auf der kosmisch-natürlichen und geistig-ethischen Ebene. Aus tiefem Herzen murmelt das Betpublikum: „Dir ist der Himmel und auch die Erde, die Welt und ihre Fülle hast Du errichtet. Du hast alle Grenze der Natur erstellt; Sommer und Winter hast Du gemacht. Du ließest Quellen und Bäche entspringen, legtest Ströme trocken, die sonst beständig fließen … Du teiltest das Meer durch deine Kraft, zerschlugst die Köpfe der Seemonster am Wasser. Du herrschest über das stolze Meer; wenn sich seine Wellen erheben, so glättest du sie. …“ Schaut der Selichot-Jude durch das Fenster, dann sieht er wie langsam an der Osten aufleuchtet, wie blutrote Flammen von der aufsteigenden Sonne sich am Himmel entzünden, wie die ganze Landschaft mir Purpur und Gold überzogen wird. Schaut der Jom-Kippur-Jude aus dem Fenster in die Dunkelheit des heiligen Abends, dann sieht er, wie ein zunehmender Mond die Bäumer auf dem Synagogenhof mit blassem Licht begießt, die sich bereits so vielen Jahren mit den Betenden beim Gebet mitschütteln, wie er ein silbernes Netz über Häuser und Gärten webt, die an den Schabbat Schabbaton, den allerhöchsten Schabbat ruhen. Der Jude, ob an der Morgendämmerungen zu den Selichot oder am Kol-Nidrej-Nacht, überlegt sich: Die Lichtstrahle, sowohl die goldene von der Sonne, als die silberne vom Mond, erfüllen den gleichen Willen, den ich mit allen anderen Juden verwirklichen – den Willen des Unendlichen, der in uns allen siedet und stürmt. Dann fängt er mit tiefer Konzentration und läutere Stimme an, zu verkünden: „Kommt, laßt uns dem Ewigen lobsingen und jauchzen dem Felsen unsres Heils! Recht und Gerechtigkeit sind deines Thrones Feste, Gnade und Treue gehen vor deinem Angesicht her. Zusammen pflegen wir süßen Umgang, gehen ins G“tteshaus unter der Menge. …“«

2 Responses to Jom Kippur, eine Begegnung mit G“tt

  1. micha says:

    Yom Kippur is more the second luchos than the initial revelation, no? An entire different encounter, one that began with repentance, with Moshe, a human, carving the luchos. An encounter we initiate.

    (Of course, trying to get a sense of what you wrote via Google Translate may mean I missed something major…)

    • Arie Folger says:

      Interesting twist you add. As it was written for a newspaper and the article length limit for the High Holidays edition is even lower than usual (5000 characters, though they did me a favor and let me get another fwe hundred of them), there is only so much I was going to develop before putting the pruning share to it, but I like your suggestion.

      Of course, there is also another link to the second luchos, which I did not mention here, though I did lecture about it in the past. As the Kitzur notes, Yom Kippur is no exception to the pattern of all biblical holidays not just symbolizing an idea and being linked to the agricultural calendar (all of Chagei Tishrei are lumped together for that last one), but also commemmorating a historical event. Yom Kippur marks the end of the forty days Moshe went up for the third (acc. to Rashi) or second time (acc. to Ramban) on Mount Sinai, and came back with such a profound forgiveness that they were commanded and allowed to build the mishkan. Thus, it is indeed historically really more connected to the second luchos. Yasher koach.

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