Wer hat nicht ein Gebet tief aus dem Herzen gesprochen und gehofft, es schnellstens in Erfüllung zu sehen, doch wartet noch immer darauf. Wenn mein Gebet nicht verwirklicht wird, heißt das, dass mein Gebet verworfen wurde? Bin ich also einfach im Himmel total unbedeutend? Nutzt mein Gebet noch für was?
Am 1. Tag Rosch ha-Schaná lesen wir aus der Tora die Geschichte der Schwangerschaft unserer Stammutter Sara, die lange kinderlos war und der Geburt ihres Sohnes Jitzchak. Aus dem prophetischen Buch Samuel I lasen wir ebenfalls von einer Geburt, die nach einer langen und scherzhaften Kinderlosigkeit kam. Die Mutter hieß Channa und sie gebar den größten und erfolgreichsten Propheten, der nach Mosche auf Erden ging, Samuel.
Obwohl diese Geschichten uns zutiefst berühren, dürfen wir fragen, was diese Geschichten nun mit Rosch haSchana zu tun haben. Nach einer Überlieferung im Midrasch, wurden sowohl Jitzchak and Samuel an Rosch haSchana geboren. Damit betonen sie die Gedanke, dass an Rosch haSchana unser jeweiliges Schicksal für das nächste Jahr im Himmel entschieden wird.
Es gibt aber auch verschiedene andere Themen diesen Geschichten, die zu Rosch haSchana gehören. Einst lernte ich eine Frau kennen, die mir die Geschichte erzählte, die offensichtlich das Leben ihres Vaters am meisten prägte. Ihr Vater war noch ein Jugendlicher, als 1918 die spanische Grippe durch die Welt und durch Europa tobte. Schätzungsgemäß erkrankten nicht weniger als 500 Millionen Menschen weltweit. Davon starben 50 bis 100 Millionen. In Europa starben über zweieinhalb Millionen Menschen.
Auch die Großeltern meiner Bekannte erkrankten an dieser schrecklichen Pandemie. Ihr Sohn fürchtete, seine Eltern zu verlieren. Als der Vater erkrankte, bat er, flehte zu G“tt ohne Ende, aber sein Vater verstarb. Als seine Mutter ebenfalls erkrankte, bat er ununterbrochen für drei Tage, aber doch verstarb auch seine Mutter. Mit der Zeit wuchs der Jungen auf, wurde aber bitter. Eine besondere Bitterkeit empfand er G“tt gegenüber, der seine Eltern nicht am Leben ließ. Er war aber stolze Jude und heiratete auch jüdisch. Als aber seine Tochter geboren wurde und aufwuchs, verbat er ihr den Besuch in die Religionsschule; mit dem Judentum wollte er nichts mehr zu tun haben.
Die Tochter, Enkelin der Opfer der spanischen Grippe, wuchs mit einer jüdischen Stolz aber ohne großes jüdische Wissen auf. Heimlich versuchte sie, die Religionsschule zu besuchen, aber erst als Erwachsene bekam sie die Möglichkeit, richtig Jüdisches zu lernen. Seither hört sie nicht auf, zu lernen, obwohl sie heute längst nicht mehr die jüngste ist. Damit zeigt sie auch, wie das Judentum uns Kraft und Bedeutung während des ganzen Lebens gibt.
Doch dürfte die Entsetzung ihres Vaters uns beschäftigen. Jede und jeder von uns hat mal intensiv für etwas gebetet, auf etwas gehofft und sich dafür zu G“tt gewendet, das doch nicht verwirklicht wurde. Besonders entsetzend ist es, wenn wir an den biblischen Wundern und den Gesprächen unseren Vorvätern mit G“tt in der Bibel denken. Einst antwortete G“tt die Gebete unseren Vorvätern, hört aber G“tt unsere Gebete heutzutage überhaupt zu?
Das ist, was wir ein existentieller Angst nennen. Wenn ich bete, und G“tt meine Gebete nicht erhört, fürchte ich schon, dass ich vor G“tt unbedeutend bin, vielleicht kaum existiere. Dieser existentielle Angst stammt aber teilweise aus eine unrealistische Erwartung, die auf eine viel zu naive Leseweise der Bibel basiert. Wenn wir die Haftara andächtig lesen, fällt uns auf, wie lange und wie viel die Channa gelitten hatte, bevor sie ein Kind bekam. Obwohl die Schrift keine Zahl nennt, ist es klar, dass sie lange Jahren Kinderlos war, und lange versuchte, den Segen G“ttes zu erhalten.
Wie lange bliebe sie kinderlos? Fünf Jahre, zehn Jahre, fünfzehn Jahre, mehr? Wer weiß? Es dauerte aber lange, bevor ihre Gebete erhört wurden.
Das gleiche sehen wir bei der Stammmutter Sarah, die erst im hohen Alter, als sie alle Hoffnung für ein Kind bereits längst aufgegeben hatte, ihr Kind bekam. Sicherlich ist eine der Dingen, die wir aus unseren heutigen Abschnitten lernen, dass unsere Gebete nicht unmittelbar beantwortet werden.
Auch unser Stammvater Abraham, der nach unseren Weisen bereits Jahrzehnten den ethischen Monotheismus lehrte und die Einzigkeit G“ttes überall verkündete, musste warten, bis er fünfundsiebzig war, bevor er die Stimme G“ttes hörte. Wie viele seiner Gebete blieben unerfüllt? Wer weiß? Wie lange hoffte er auf ein Zeichen von G“tt, dessen Name er dauernd verkündete, bevor Er je zu ihm sprach? Jahrzehnten?
Waren sie denn unter weniger existentieller Druck als wir? Oder sehnten sie sich genau so viel nach einem Zeichen von G“tt, nach der Erfüllung ihrer Gebete?
Und doch heißt das nicht, dass G“tt ihre Gebete nicht hörte oder erhörte. Unsere Weisen lehren im Talmud (Jewamot 64a):
מפני מה היו אבותינו עקורים? מפני שהקב”ה מתאווה לתפילתן של צדיקים
Weshalb blieben unsere Vorväter so lange kinderlos? Denn der Heilige, gepriesen sei Er, sehnt sich nach den Gebeten der Gerechten.
Eine ähnliche Gedanke finden wir im Gebet, dass König Salomon zur Einweihung des ersten Tempels sprach. In seinem Gebet anerkannte er, dass die Gebete der Juden erst in Erfüllung kommen werden, wenn sie sich leidenschaftlich, mit reinem Herzen und aus Umkehr vor den einstigen Sünden an G“tt wendet. Vom Nichtjuden, der aber den Tempel besuchte, erwartete er keine solche durchdrängende Leidenschaft, sondern bat, dass die Nichtjuden, die den Tempel besuchen, um zu G“tt zu beten, unmittelbar ihre Gebete in Erfüllung sehen.
Grund dafür sei, wie zahlreiche Bibelkommentatoren erklären, dass es einerseits wichtig ist, beim Fremden, der zu Besuch kommt, eine unmittelbare Eindruck zu schaffen, damit er nachher von seinem Besuch und der Erfüllung seiner Gebete erzählt, und sich nachher mehr und mehr zu G“tt wendet. Von ihm kann nicht viel vorab erwartet werden, denn er kennt G“tt nicht und muss noch vom Monotheismus und der Lehre der Tora überzeugt werden. Juden, die aber wegen ihrer Geschichte bereits längst im Klub sind und ein Bezug auf G“tt und Seiner Tora haben, von denen darf erwartet werden, dass sie mehr erreichen.
Wenn also unsere Gebete nicht vor unseren Augen erfüllt werden, heißt das nicht, dass G“tt nicht hört oder sie nicht erfüllen wird, sondern durfte es bedeuten, dass G“tt sich nach unseren Gebeten sehnt, sie mag, und unsere Stimme besonders süß im Himmel empfunden wird. So werden eines Tages bestimmt mehrere von unseren Gebeten erfüllt. Mittlerweile zeigen wir uns würdig zu lassen wir unsere süße Stimmen im Himmel emporsteigen.
Und obwohl die Gebete des Vaters meiner Benannte unerfüllt blieben, wurden sie anscheinend doch erhört und erwirkten durch das Wohl seiner Tochter ein Maß an Kontinuität und Verewigung.
[Predigt zum 1. Tag Rosch ha-Schaná 5775]