Wo war der jüdische G’tt bei der Schoa?
Erlauben Sie mir nach dem Motto vom als Rabbi Jacob verkleideten Victor Pivert (Die Abenteuer des Rabbi Jacob, 1973), eine Frage mit einer anderen zu beantworten: Wo war G”tt, als gestern ein Baby in Timbuktu tödlich verunglückte? Philosophisch sind beide Fragen gleich. Wenn G”tt alles Böses verhindern muss, dann nicht nur für sechs Millionen, sondern für jeden einzelnen Menschen, denn Leid ist Leid.
Aber dann leben wir nicht in der Welt, die Er erschaffen hat, sondern in einem Disney-Zeichenfilm. Eine Welt ohne Leid ist eine Welt ohne Möglichkeiten, ohne Ambitionen, ohne Verdienste, ohne Glück und ohne Güte.
Elie Wiesel schreibt auch von Menschen, die ausgerechnet in den KZ die Glaube gefunden haben.
Wie kann ein Rabbiner (unter anderen Rabbiner Menachem Mendel Schneerson, Rabbiner Chaim Ozer Grodzinsky. Rabbiner Joel Teitelbaum und andere) oder auch irgend ein Jude den Holocaust als verdiente Strafe (weil nicht genug religiös) der Juden bezeichnen? Es steht doch außer Frage, dass genügend wirklich religiöse Juden umgebracht wurden und dadurch das Argument von oben entkräftet wird.
Sie stellen hier zwei Fragen. Erstens, ob wir wirklich denken, dass die Zerstörung des europäischen Judentums während der Nazi-Herrschaft eine Strafe für fehlende jüdische Religiosität war. Zweitens, da es sicherlich Denker gibt, die das behaupteten, wie so eine Haltung überhaupt möglich ist, wenn zahlreiche Opfer des Holocausts ausgerechnet praktizierende Juden waren.
Erlauben Sie mir zuerst, die zweite Frage zu beantworten, ohne die erste aus den Augen zu verlieren. Vielleicht ist so eine Theodizee, wobei solche schreckliche Ereignisse Strafen sind, für Sie unverständlich, für jene Denker aber wohl verständlich ist, weil sie denken, dass Strafe auf nationale Ebene / Volksebene ebenfalls existiert, dafür eben anders funktioniert. Es gibt ja Präzedenzfälle von Tragödien, in denen zweifelsohne aufrechten Menschen ebenfalls zu Opfer fielen. So etwa bei der Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels Jerusalems, bei der hadrianischen Unterdrückung im 2. Jh., den Kreuzzügen, der Inquisition, den Pogromen von Bogdan Chmielnicki und seinen Kosacken, Kishinev, bei den muslimischen Pogromen von 1929 gegen Juden in Israel, und bei noch vielen, vielen anderen traurigen Geschichten. In all diesen Tragödien wurden aufrechten Menschen ermordet, und doch sahen viele da kein Widerspruch, dass diese schreckliche Ereignisse auf nationalen Ebene auch eine himmlische Strafe beinhalten konnte.
Andere Denker sahen das ganz anders und können den Holocaust nicht als Strafe sehen. Ich glaube, zu den letzteren zählt man Raw Joseph Ber Soloveitchik und den Klausenburger Rebbe, so wie viele andere sehr traditionelle Denker.
OK, ich sage es deutlicher: Wozu soll man an Gott glauben, wenn er auch der Teufel sein kann? Denn dass er am Holocaust Mitschuld hat, kann man ja nicht bestreiten.
Nö, damit bin ich gar nicht einverstanden. Am Holocaust sind Menschen Schuld, die Nazis, ihre Anhänger, ihre Helfer, die stillschweigende Deutscher, und Chamberlain mit allen damaligen Gutmenschen, und die Alliierten, die weigerten die Rettung der Juden zu prioritisieren. G”tt hingegen, ließ uns diese Schrecken als Volk überleben, und mit der Wiederaufblühung des jüdischen Lebens nach dem Krieg den jahrzehntelange Zerfall der jüdischen Identität teilweise umkehren.
Eine Welt, in der G”tt den Holocaust unmöglich gemacht hätte, ist eine Welt in der also das Böse unmöglich ist. Das ist keine Welt in der wir leben wollen, das ist eine Märchenwelt für Kinderbücher. In so eine Welt ist auch das Gute unmöglich.
Eine Welt in der WIR gutes tun, ist eine, in der WIR böses tun können. Es hängt also von uns ab. Würde die von G”tt erschaffene Welt kein Böses ermöglichen, dann wäre es nicht unsere Wahl, Gutes zu tun; wir wären einfach passive Konsumenten eines Disney-Zeichenfilms.
Warum wäre eine Märchenwelt nicht erwünscht? Disney-Zeichenfilme machen ja Spaß! Und wenn Sie sie langweilig finden, ist Langeweile ein Grund, eine Welt voller Bösheit zu wollen?
Die Langeweile eines Zeichenfilms dauert eine Stunde, und steht im Kontrast mit der realen Welt, deshalb genießen wir ihn. Eine Welt, die aber nur wie ein Zeichenfilm ist, ist eine, in der das Leben keinen Sinn hat.
Es ist nicht so, als ob man einfach ein kleines Detail der Welt ändert, und alles anderes gleich bleibt. Eine Welt in der es kein böses geben kann, ist eine Welt der menschlichen Passivität, in der es keine Güte, deshalb auch keine Liebe, keine Leidenschaft und keine Kreativität gibt.
Und würden sich die sechs Million jüdische Opfer nicht eher diese Langeweile wünschen?
Was die sechs Million jüdische Opfer des Holocaust sich eher wünschen würden, ist, dass alle zivilisierte Gutmenschen eben nicht so lange so feige waren, und dass sie das menschliche Leid ernster genommen hätten. Hätte die Welt übrigens den armenischen Genozid nicht ignoriert, dann hätte es vielleicht den Holocaust gar nicht gegeben. Hätten die Alliierten in 1942 die Berichte des werdenden Holocaust nicht verleugnet, oder 1943-44 die Zuglinien nach Auschwitz und anderen Vernichtungslager zerstört, dann hätten anderthalb oder mehr Millionen Juden gerettet werden können. Hatte England mit dem berüchtigten White Paper die jüdische Immigration ins heilige Land nicht gestoppt, wären viele dort, statt in den Gaskammern angekommen. Und hätte die USA ihre Tore nicht geschlossen, wer weiß, wie viele so gerettet würden. Menschen haben versagt!