Als wir nach einem einjährigen Aufenthalt am Fuß des Berges Sinai zum Heiligen Land aufbrachen, ertönte ein Schofarschall, der verkündete, dass es nicht mehr verboten war, den Berg zu betreten (cf. Schemot 19:13); der Ort war nicht mehr heilig. Wohin ging die Heiligkeit jenes Ortes, an dem G”tt sich vor hunderttausenden und millionen Menschen mit Donner, Blitz, dichtem Nebel, Feuer und einer nicht aufhörenden Stimme offenbart hatte? Verschwand jene Heiligkeit? Einfach so?
Der mittelalterliche Bibelkommentator Ramban (Nachmanides, in seinem Kommentar in der Einführung zu Schemot Kap. XXV) war der Meinung, dass der Ort deshalb nicht heilig blieb, damit wir begreifen, dass die Begegnung mit G”tt nicht in der Vergangenheit, auf dem Berg wo einst die Offenbarung war, stattfindet, sondern dort wo wir G”tt weiterhin dienen. G”tt befahl damals ein Mischkan, ein Stiftzelt — einen mobilen Tempel — zu bauen, in dem die Korbanot (die Opfer) dargebracht werden konnten. Auf dem Altar des Mischkans und später des Bejt ha-Mikdasch (des Tempels Jerusalems) brannte andauernd und ununterbrochen ein Feuer, das – so Ramban – die einstige g”ttliche Präsenz an der Spitze des Berges Sinai repräsentierte. Heutzutage, wenn der Tempel seit mehr als 1900 Jahren weiterhin in Trümmeln liegt, symbolisieren die Batei Midraschot — die Lehrhäuser — und die Synagogen unsere Verbindung mit dem Berg Sinai und der Offenbarung der g”ttlichen Präsenz. Daher werden diese auch Mikdasch me’at, kleine oder mindere Tempel genannt.
Kaum ein Ritual erinnert so sehr an die Begegnung mit G”tt als das Aus- und Einheben der Tora aus dem Aron ha-Kodesch (Toraschrein). Vor dem offenen Aron ha-Kodesch stehen wir alle und verkünden Schma Jissraël – “Höre Israel, der Ewiger ist unser G”tt-Allmächtiger, Er ist der einzige”, “Unser G”tt-Allmächtiger ist einzig, groß, Sein Name ist heilig”. Schließlich fordert der Vorbeter die Anwesenden auf: Gaddelu la-Schem iti, “verkündet mit mir die Größe G”ttes, erhebt Seinen Namen”.
Das Sprechen dieser Verse ist ein alter Brauch, der aber nicht im Talmud erwähnt wird. Viel eher finden wir den Ursprung dieses Brauches im Traktat Soferim (Kap. XIV), einem kleinen Buch, dass aus Erez Israel aus der Zeit unmittelbar nach der Vollendung des Talmuds stammt, also aus dem 6.-8. Jh. der bürgerlichen Zeitrechnung.
Die Einführung dieses Brauchs stammt angeblich aus gegebenen Anlass: das frühe Christentum liebte solche Verse, in die es anachronistisch die Dreifältigkeitslehre hineinlesen konnte. Dafür interpretierte es bewährte biblische Verse ganz anders als wir Juden. Ein Beispiel ist das Schma Jissraël: Wir betrachten es seit eh und je als klare Verkündung der Einzigkeit G”ttes. Frühe Christen freuten sich aber über die Namen G”ttes, die insgesamt dreimal in jenem Vers vorkommen, und wollten den Vers im Dienste der Dreifältigkeitslehre bezwingen. Als das christliche oströmische Reich die öffentliche Lehre der Tora versuchte einzuschränken, entstand der folgende, sehr symbolträchtige Brauch: Der Vorbeter hält die Tora ganz öffentlich in der Hand, verkündet das Schma Jissraël und erläutert es unmittelbar: G”tt-Allmächtiger ist einzig! Nach einem alten Brauch tat dies der, der zu Maftir aufgerufen wurde.
Damit verkündete der Vorbeter laut, dass wir weiterhin der Tora treu bleiben, dass G”tt einen besonderen Bund mit dem Volk Israel schloß (“Schma Jissraël”) und dass wir jenen Vers so lesen, wie wir es immer taten: Dass es nur einen einzigen G”tt gibt. Die Dreifältigkeitslehre tun wir entsprechend unmittelbar verwerfen. Dem schließen sich die Anwesenden an, die unmittelbar mit den gleichen Versen laut erwidern. (Quelle: Jacob Mann)
Der Überlieferung fand die Offenbarung am Berg Sinai an einen Schabbat statt. Wenn die Tora zurück in den Aron ha-Kodesch eingehoben wird sprechen wir also schließlich am Schabbatmorgen den 29. Psalm, der die Offenbarung am Berg Sinai hervorruft: “Die Stimme des Ewigen schallt über den Wassern, der G”tt der Ehren donnert, der Ewige über großen Wassern. … Die Stimme des Ewigen sprüht Feuerflammen, die Stimme des Ewigen erschüttert die Wüste…” (Nach Tur Orach Chaim 284)
An Feiertagen, Wochentagen und Schabbat zu Mincha sprechen wir den 24. Psalm, der das Bejt ha-Mikdasch hervorruft: “Wer wird auf den Berg des Ewigen steigen? Und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte? … Hebet eure Häupter empor, ihr Tore, und erweitert euch, ihr ewigen Pforten, dass der König der Ehren einziehe!”