Meine besondere andere Liebe (Ansprache zu Kol Nidrej 5778 im Wiener Stadttempel)

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Der Stadttempel während des Kantorenkonzertes im Herbst 2016. Von Jom Kippur kann ich ja selbstverständlich (und hoffentlich) keine Bilder zeigen.

Austrian-German_Swiss_flags-tinyLiebe Freunde,

Toll, dass Ihr da seid, dass wir zahlreich zu Kol Nidrej und Ma‘ariw erscheinen. Ich betrachte es als einen der Höhepunkte des Jahres, dass wir in wenigen Minuten alle zusammen das Schema Jissraël sprechen werden. Jascher Koach!

Heute Abend möchte ich über eine große Liebe von mir sprechen. Nein, ich meine nicht von meiner Frau, die ich sehr tief liebe und der ich dauerhaft Dankbarkeit schulde, nein, ich möchte von einer anderen großen Liebe sprechen, und ich verspreche, dass meine Frau mir das verzeihen wird.

Es ist allen bekannt, dass im Judentum der Monotheismus sehr weitreichend ist. Nicht nur bekennen wir uns zu dem festen Glauben, dass es nur einen einzigen G“tt gibt, der Himmel und Erde erschaffen hat, und dessen Vorsehung unser Leben beeinflusst, sondern auch, dass ER keinen Körper hat, keinem Körper innewohnt und es von IHM überhaupt kein Bildnis geben kann.

Deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich im Talmud (Berachot 6a) auf die folgende Lehre stieß. Rabbi Awin bar Raw Ada lehrt im Namen des Rabbi Jizchaks, dass der liebe G“tt Tefillin anzieht. Was? Wieso?! Tefillin sind ja die Gebetskapseln, die jüdische Männer über Barmizwa wochentags täglich zum Morgengebet auf dem Arm und auf dem Kopf anziehen; wie kann es sein, dass G“tt, der ja keinen Arm und keinen Kopf hat, Tefillin anzieht? Eine absurde Aussage!

Absurd, bis man mit dem literarischen Genre der Aggadot im Talmud vertraut wird. Liest man unmittelbar weiter, dann erkennen wir schnell, dass der eigentliche Punkt von Raw Awin bar Raw Ada nicht ist, dass G“tt physische Tefillin anzieht, sondern was in diesen metaphorischen Tefillin geschrieben ist. Denn unsere Tefillin entnehmen ihre Heiligkeit nicht von der schwarzen Farbe oder von ihrer Form, obwohl diese Aspekte schon religionsgesetzlich vorgeschrieben sind, sondern die Tefillin entnehmen ihre Heiligkeit von Texten, die auf kleinen Pergamentrollen geschrieben sind und aufgerollt in den Tefillinkapseln aufbewahrt werden.

Die Schriftstücke in den Tefillin beinhalten Texte, die aus menschlicher Perspektive vom Bund Israels mit G“tt sprechen. Entsprechend fragte ein jüngerer rabbinischer Protagonist aus dem Talmud, Raw Nachman bar Jitzchak, den Sohn Raw Chija von Raw Awin bar Raw Ada, was ─ offensichtlich nach der Lehre seines Vaters ─ in den Tefillin G“ttes steht.

Darauf erwiderte Raw Chija, welche Verse in den g“ttlichen Tefillin stehen. Zwei dieser Verse möchte ich hervorheben:

  • I Chron. 17:21: Wer ist wie Dein Volk Israel, eine einzigartige Nation auf Erden?
  • Dewarim 4:7: Denn wer ist so ein großes Volk, dass seine Götter ihm so nahe kommen, wie der Ewige G“tt-Allmächtige, wenn wir IHN rufen?

Damit ist sicher nicht gemeint, dass der liebe G“tt einen Sofer beauftragt hat, ihm solche Schriftstücke für den g“ttlichen Tefillin zu schreiben, die ER an SEINEN Arm und SEIN Haupt anbindet, die ER ja gar nicht hat, da ER überhaupt keinen Körper hat. Viel eher sind diese Verse das Spiegelbild der Abschnitte, die in unseren irdischen Tefillin stehen. Die Schriftstücke unserer Tefillin sprechen von den Pflichten Israels, die ihren ewigen Bund mit G“tt in dauernder Erinnerung halten sollen; die Tefillin gehören zu jenen Gegenständen ─ wie auch die Mesusa ─ mit denen wir unsere Liebe zu G“tt bekennen. Die Texte, die also sozusagen in den Tefillin G“ttes stehen, sind ihr Spiegelbild, sie zeugen von der großen Liebe G“ttes für uns. „Wer ist wie DEIN Volk Israel, ein einzigartiges Volk!“ und welches andere Volk kann von so einer engen Beziehung berichten, dass der liebe G“tt ihm so nahe ist? Das ist Liebe.

Und so kommen wir zu meiner großen Liebe, von der ich sprechen wollte: Ich liebe nämlich auch unser Volk und, unsere Gemeindemitglieder, ob Sie nun täglich, wöchntlich oder nur zu bestimmten Feiertagen und Anlässen in den und unseren Stadttempel kommen, und ich glaube, dass recht viele von uns diese Liebe teilen. Daher: ich liebe Euch alle.

An Rosch haSchana lag es mir sehr am Herzen, jedem und jeder die Möglichkeit zu bieten, dem Gebet mitzufolgen. Wir haben aber eine heimtückische Akustik im Stadttempel, und viele Stadttempelbesucher sind sich kaum bewusst, wie laut sich private Gespräche durch die Akustik durch den Raum des Stadttempels verbreiten und verstärken. Während sich verschiedene Menschen ─ nicht zuletzt unser wunderbarer Oberkantor Shmuel Barzilai ─ bemühten, ihre Texte, Lieder und Gebete vorzutragen und dabei gehört zu werden, entstand so ein großer Lärm, dass mich einige Leute später fragten, wieso wir so eine lange Pause im Gebet eingebaut hatten.

Ich freue mich ebenfallsgleich wie alle, wenn ich jemanden nach Ablauf eines Jahres wieder sehe. Dennoch können wir kaum ignorieren, dass ─ wenn wir die Nachrichten des letzten Jahres miteinander teilen ─ wir damit andere Tempelbesucher daran hindern, die Ruhe zur erwünschten Besinnung zu finden.

Mir liegt es sehr am Herzen, dass jedes Mitglied unserer Gemeinde sich im Stadttempel wohl fühlt, hier gerne herkommt, und wenn er oder sie hier ist, eine authentische und vollumfängliche jüdische Gebetserfahrung bekommt, von der er oder sie das mitnehmen kann, was er oder sie sich wünscht. An Rosch haSchana heißt das halt, dass von Anfang bis Ende des Schofarblasens ExklamationenAufrufe jeglicher Art fehl am Platz sind ─ einschließlich heitere Ausdrücke der wohlverdienten Dankbarkeit zu unserem wohl geübten Baal Tokea Rami Ungar-Klein. Das ist hauptsächlich weder eine Frage der Frömmigkeit, noch des Grades der Orthodoxie oder der Tiefe des eigenen jüdischen Wissens, sondern zuallererst eine Frage des Anstandes. Sie alle, ja wir alle wollen einen Stadttempel, in den wir gerne gehen und was Jüdisches sozusagen nach Hause mitnehmen können, dafür brauchen wir eine bestimmte Atmosphäre. Dass dieser Wunsch und meine Bemühungen, als der Lärmpegel zu Rosch haSchana gar nicht mehr passte, von manchen negativ interpretiert wurde, tut mir sehr leid. Aber denken Sie sich für einen Moment auch in meine Perspektive hinein, als würden Sie in meinen Schuhen stehen: Jede und Jeder von Euch würde an meiner Stelle genau so verstehen, dass es unsere gemeinsame Verantwortung ist, den Lärmpegel zu senken, aus Anstand gegenüber Ihnen, die ich ja alle besonders liebe. Dennoch möchte ich an Jom Kippur besonders wiederholen: Dass dieser Wunsch und meine Bemühungen, als der Lärmpegel zu Rosch haSchana gar nicht mehr passte, von manchen negativ interpretiert wurde, tut mir sehr, sehr leid.

Ausgenommen zum Ende des Feiertages, ertönen an Jom Kippur keine Schofartöne, sodass die Atmosphäre lockerer sein darf, aber unsere Akustik hat sich nicht geändert – denken Sie bitte daran.

Jetzt ist nicht der Moment, sich damit all zu lange auseinanderzusetzen. Denken wir lieber an den Tefillin G“ttes, in denen SEINE Liebe zum Volk Israel, zu uns, so stark betont wird. Aber lassen wir uns das Thema der Atmosphäre und damit auch der Zukunft des Stadttempels nicht entgehen. Daher möchte ich ein Save the Date ankündigen. Demnächst werden Sie, alle die eine Tempelkarte für den Stadttempel oder das Gemeindezentrum gekauft haben, eine Einladung zur folgenden Veranstaltung erhalten: Am Montag, 23. Oktober, werden wir gegen Abend eine Diskussionsveranstaltung, eine Art Bürgerparlament zum Thema Stadttempel organisieren. Zusammen mit mir laden unser IKG Präsident Oskar Deutsch und die Mitglieder des Tempelvorstandes ein. Es ist mein Anliegen, ja das Anliegen aller Einladenden, Euch die Gelegenheit zu geben, gehört zu werden, und mit Euch Gedanken auszutauschen, sowie auch unsere Sorgen, aber auch Vorstellungen, ja sogar Visionen für eine blühende Zukunft des Stadttempels zu teilen. Haltet also den 23. Oktober bitte frei und kommt zahlreich.

Und nun, meine Lieben, Mi ke‘Ammecha Jissraël, wer ist wie du, Israel. Möge unser gemeinsames Gebet uns alle inspirieren und vor G“tt für uns bewirken, dass wir alle für ein Jahr des Lebens, für ein gesundes, süßes, erfolgreiches, gutes Jahr bestätigt werden, Amen.

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