Robotik, artifizielle Intelligenz und jüdische Utopie

Austrian-German_Swiss_flags-tinyDie Technologie entwickelt sich rasch und die Welt ändert sich schnell wie noch nie zuvor. Robotik hat seit Jahrzenhnten repetitive Aufgaben in der Industrie übernommen, Produktionskosten verringert und manche Arbeiter überflüßig gemacht. Dennoch haben die Wirtschaft und die Gesellschafft sich derart entwickeln können, dass dauernd neue lukrative Arbeitsplätze entstanden. In einer weiteren technologischen Welle wird Artificial Intelligence immer mehr eingesetzt. Gleicht diese Innovationswelle die früheren, und werden wir wieder genug neue Arbeitsplätze schaffen, oder ist die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ein Zeichen, dass sich die Wirtschafft grundsätzlich ändert? Wird sie sich noch grundsätzlicher ändern? Was werden die ökonomische und gesellschaftliche Folgen der Kombination der Robotik und der artifiziellen Intelligenz?

Das sind die Themen eines meiner Artikel, der zuletzt in der Zeitschrift Das jüdische Echo, Vol. 66, 2017/2018 | 5778, beim Falter Verlag.

Wie wir in Zukunft leben werden. Betrachtungen im Lichte der Haschkafa, der jüdischen Anschauung des Lebens und der Welt.

Am Donnerstag, den 20. Juni 2017 kündigte McDonald’s ein neues Vorhaben an: Künftig würden in 2500 Restaurants in den USA die Kassen von Selbstbedienungsautomaten ersetzt. Die Wall Street ist begeistert und die McDonald’s-Aktie steigt wie nie zuvor. Analysten erwarten einerseits einen besseren Service, da die Bestellungen, die mit dem Automaten getätigt werden, nicht verwechselt werden können, anderseits erhebliche Einsparungen bei den Personalkosten. Schon in den Monaten vor dieser Ankündigung stieg die Aktie um 26 Prozent, also erheblich stärker als die zehn Prozent des S&P-500-Index.1

Tags zuvor berichtete die „Bloomberg Businessweek“, dass der österreichischer Stahlgigant voestalpine AG am Standort Donawitz 2017 eine neue Anlage in Betrieb nehmen wird, die nicht weniger als 500.000 Tonnen hochkarätiger Stahlkabel produziert, und sich damit eine beachtliche und einträgliche Nische schafft, wobei für die gesamte Produktion lediglich 14 Angestellte benötigt werden.2

2016 fing der Fahrtenvermittler Uber mit seiner Tochterfirma Otto an, autonome Lkw einzusetzen.3 In der Autoindustrie zum Beispiel wurden schon bisher viele der sich wiederholenden Arbeitsvorgänge automatisiert. Mit der Entwicklung von Artificial Intelligence übernehmen nun Roboter und Computer zunehmend auch Aufgaben der Dienstleistungsbranche, die derzeit noch einen erheblichen Teil der Arbeitsplätze in der Wirtschaft bereitstellt. Seit August 2016 fahren auch hundert autonome Taxis von Uber in Pittsburgh.4 Der US-Fahrdienstvermittler, der zuerst ein Konzept entwickelt hatte, um Fahrern möglichst wenig zahlen zu müssen, geht jetzt daran, sie völlig überflüssig zu machen, um so die Kosten weiter zu senken.

Was werden die Folgen dieses dramatischen Aufkommens der Automatisierung sein? Die 14 Angestellten in der voestalpine AG Donawitz werden zwar besser bezahlt, es sind aber eben nur noch 14, und ein weiterer vollautomatisierter Standort ist geplant.

Marshall David Brain, ein amerikanischer Autor und Unternehmer, schildert in seiner futuristischen Geschichte „Manna“5 zwei mögliche Szenarien. In den Kapiteln eins bis vier beschreibt er ein dystopisches Szenario, dessen Umrisse in der heutigen Wirtschaft leider tatsächlich bereits zu erkennen sind. In seinem E-Book geht es um ein digitales Managementsystem, das anfangs im Fastfoodbereich eingesetzt wird. Es begleitet die Arbeiter während ihres Arbeitstages, um sie möglichst effizient zu machen. Was Manna von früheren Automatisierungswellen unterscheidet, ist, dass hier nicht repetitive Handlungen, die von Arbeitnehmern der unteren Schicht ausgeführt werden, automatisiert werden, dafür ist die Arbeit in den Fast-Food-Restaurants zu vielfältig. Nein, Manna ersetzt jetzt die besser bezahlten Manager und bedroht damit die Aufstiegsmöglichkeiten und überhaupt die wirtschaftlich-gesellschaftliche Mittelschicht. Die Fastfood-Firma, die das Managementsystem Manna erfunden hat, erspart sich immer mehr Personalkosten und fährt dramatisch gestiegene Gewinne ein. (Hatten wir nicht erwähnt, dass McDonalds vor hat, an 2500 Verkaufspunkten ein vollautomatisiertes System zum Bestellen und Bezahlen zu installieren.)

Mit der Zeit lernt das Manna-System immer mehr dazu, sodass es einerseits für weitere Unternehmen in der Dienstleistungsindustrie Verwendung findet, und anderseits immer mehr Aufgaben in den bestehenden Bereichen übernimmt. Nach einer gewissen Zeit hat das System genug Daten gesammelt, um sogar die Anstellung und Bewertung der Arbeitnehmer übernehmen zu können. Schließlich wird das System ermächtigt, Ermahnungen und Abmahnungen zu erteilen, und es kann bei Bedarf Arbeitnehmer entlassen. Die Aneignung immer spezifischerer Kenntnisse ermöglichen es dem System, Anwälte, Ärzte und andere hochqualifizierte Fachleute zu unterstützen, bis es schließlich so beherrschend wird, dass auch in jenen Fachgebieten der Druck auf die Löhne zunimmt. Als sich die artifizielle Intelligenz dann so weit entwickelt hat, dass sie auch komplexe Objekte und Räume „sehen“ und entsprechend handeln kann, werden Menschen zunehmend von Robotern ersetzt. Da aber das Manna-System in vielen Industrien eingesetzt wird und für die Anstellung von immer weniger benötigten Arbeitnehmern zuständig ist, finden die gefeuerten Arbeitskräfte kaum noch neue Stellen. Es hat sich eine Situation entwickelt, die rückblickend schlimmer ist, als die von Karl Marx im „Kapital“ beschriebene Ausbeutung des Proletariats. Die Welt besteht nun aus wenigen steinreichen Kapitalinhabern, für die die Roboter alles tun, und einem Proletariat, das nicht einmal mehr ausgebeutet, sondern ‒ ausgeschlossen aus der Gesellschaft ‒ in kleinen Sozialwohnungen mit Fernsehern ruhig gestellt und von einer effizienten Gemeinschaftsküche ernährt wird.

Ohne auf das Werk von Marshall Brain hinzuweisen, kommt der berühmter Physiker Stephen Hawkings zu ähnlichen Schlussfolgerungen.6 Er sah die ersten Anzeichen einer bedrohlich wachsenden Ungleichheit schon in der Finanzkrise von 2008, als deutlich wurde, welch übergroßen Einfluss einige wenige Leute auf die Weltwirtschaft haben und dass einige Fehler der Wall Street die ganze Welt in einer Wirtschaftskrise stürzen können. Für ihn sind die Brexit-Befürworter und die Wähler Donald Trumps laute Proteststimmen von von der Globalisierung und den Entwicklungen in der Robotik und in den Informationstechnologien betroffenen Menschen, Proteststimmen, die wir nicht ignorieren dürfen.

Es sind sich jedoch nicht alle Denker darin einig, dass die zunehmenden Fertigkeiten unserer Roboter schlecht für die Gesellschaft sind. So etwa schreibt der Journalist John Markoff in der „New York Times“: „We need robots to take our jobs“,7 denn zwei demografische Tendenzen bedrohten unsere Wirtschaft: sinkende Geburtenzahlen und eine immer älter werdende Gesellschaft. Sinkende Geburtenraten bedeuten, dass es immer schwieriger wird, neue Arbeitnehmer zu finden, um jene, die in den Ruhestand gehen, zu ersetzen. Außerdem brauchen ältere Menschen mehr Unterstützung. In der Vergangenheit lebten die Menschen nicht so lange wie heute, und wer dann doch sehr alt wurde, verfügte über mehr junge Menschen, die sich um ihn kümmerten. Heute hat sich das Verhältnis zugunsten der älteren Menschen verschoben. Der Anteil der Alten war noch nie so hoch wie heute und die Wirtschaft ist auf die Hilfe von Robotern angewiesen, um die Greise zu versorgen. John Markoff zeigt auf, wie technologische Entwicklungen zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen können, er bietet jedoch keine Lösungen an, wie das Horrorszenario von Marshall Brain zu verhindern wäre.

Auch Marshall Brain stellt sich andere mögliche Gesellschaften vor, die aus dieser technologischen Revolution entstehen könnten. So wird der Held der Geschichte, der mittlerweile keine Chance auf Arbeit mehr hat, eines Tages von zwei Vertreterinnen eines „Project Australia“ besucht. Jahre zuvor hatte ein Unternehmen ein großes Stück Land in Australien gekauft, um dort eine technologisch unterstütze Utopie zu entwickeln, ein Paradies auf Erden. Das Programm gefällt der Regierung so gut, dass sich ganz Australien dem Projekt anschließt. Das Prinzip des „Project Australia“ ist einfach: Jeder Aktieninhaber hat Anspruch auf einen Platz im Projekt. Es ist ein Projekt, in dem weitgehend alles recycelt wird und die Energie aus nachhaltigen Quellen kommt. Diese Energie gibt es im Übermaß, sodass sich das Leben im Projekt gut entfalten kann. Menschen werden mit Elektronik bestückt, damit sie ohne zusätzliche Geräte jederzeit Zugriff auf die „Augmented Reality“ (eine computergestützte „erweiterte Realität“) haben. Statt Telefon, Rechner und GPS-Gerät zu benützen, müssen sie nur noch denken. Damit werden die Menschen mit einer ähnlichen Technologie versehen, wie sie in Manna steckt. Aber statt damit Menschen zu managen, sollte das System des „Project Australia“, das direkt in die Wirbelsäule eingepflanzt wird, den Menschen Wahlmöglichkeit und Kontrolle geben.

In der Utopie von Marshall Brain haben die Menschen die Freiheit, das ganze Leben Ferien zu machen oder sich vollständig ihren kreativen Impulsen zu widmen. Forscher forschen, ohne sich um ihr Einkommen sorgen zu müssen, Künstler machen Kunst und Couch-Potatoes können den ganzen Tag fernsehen. Abenteurer erleben die Natur und unternehmen Fernreisen, und auch alle anderen machen das, was sie gern tun. Damit eine Person nicht zu viele Ressourcen verbraucht, wird jedem Einwohner-Aktionär wöchentlich ein Guthaben zugewiesen, das er ausgeben oder sparen oder auch in einem Crowdfunding-System in die Forschung und Entwicklung von Innovationen investieren kann.

Das Buch von Marshall Brain führt deutlich vor Augen, dass die sich rasch entwickelnde Technologie ohne grundlegende gesellschaftliche Änderungen zu einer Ungleichheit führt, die noch viel schlimmer sein wird als jene, die wir bisher gekannt haben. Internet-Technologien erlauben bereits jetzt einigen wenigen Firmen, einen großen Teil des Handelsmarktes zu beherrschen, wie zum Beispiel Amazon, das längst nicht mehr nur Bücher verkauft. Reine Internet-Dienstleistungen und Technologieprodukte, wie soziale Netzwerken und Kommunikationstechnologien überhaupt, können noch leichter von einer Firma beherrscht werden, wie sich aus der Marktführerschaft von Google, Facebook und Apple ergibt. Uber zeigt, wie Dienstleistungen nun zunehmend von ähnlichen „Economies of Scale“ (Skaleneffekte, das sind Kostenersparnisse aufgrund der Größe) betroffen sind. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, könnte sich so eine schreckliche Gesellschaft entwickeln, wie sie Marshall Brain für seine fiktive USA schildert.

Wobei man als Kritik zu dieser These schon anmerken muss, dass Menschen, die zum überwiegenden Teil Sozialhilfeempfänger sind und in (kontrollierter) Armut leben, auch nichts mehr kaufen können. Es ist also im Interesse der Reichsten, dass die Ärmsten nicht zu arm werden und die Mittelschicht nicht verschwindet, denn wer wird sonst ihre Produkte noch kaufen?

Es ist übrigens nicht immer eindeutig, wohin die Wirtschaft führt. So berichtet CNN Tech am 14. Juli 2017, dass artifizielle Intelligenz zunehmend eingesetzt wird, um Röntgenbilder und dgl. zu analysieren.8 Einerseits ermöglichen diese Technologien, die viel größere Zahl Aufnahmen, die von modernen MRI-Geräten produziert werden, zu verarbeiten. Wo einst ein Röntgenspezialist für jeden von einem CT-Scan-Gerät durchleuchteten Patienten 20-50 Bilder analysieren müsste, sind es heute leicht 1000, was ein Mensch kaum verarbeiten kann. Die Technologie erlaubt uns also mehr zu tun und genauer zu wirken. Anderseits macht sie den hochgebildeten Radiologen langsam an überflüssig. Bald wird er nur noch den Patienten die Schlussfolgerungen des AI-Systems erklären müssen. Ist diese Entwicklung eine positive oder negative?

Dennoch wäre es angemessen, darüber nachzudenken, wie die biblischen Gebote rund um die Sabbat- und Jowel-Jahre in unserer nicht-agrarischen Gesellschaft im Geiste umgesetzt werden können.

Das fiktive „Project Australia“ erinnert nämlich an Schilderungen der jüdischen Utopie bei den Propheten Israels: „… dass Juda und Israel sicher wohnten, ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“ (I. Könige 5:5) und „dass sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Rebmessern verschmieden; kein Volk wird wider das andere ein Schwert erheben, und sie werden nicht mehr den Krieg erlernen; sondern jedermann wird unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum sitzen, und niemand wird ihn stören“ (Mica 4:3-4). Solch eine Utopie kann aber nur Wirklichkeit werden, wenn alle Bürger Landbesitzer sind. Das ist aber auch ein Teil der biblischen Utopie, denn nach der Thora wurde das Heilige Land unter allen zwölf Stämmen Israels aufgeteilt,9 und konnte man Land größtenteils nur verpachten, nicht verkaufen;10 alle fünfzig Jahre musste ein Jowel-Jahr ausgerufen werden, es gingen alle Sklaven frei und alle Felder gingen an ihre ursprünglichen erblichen Besitzern zurück.11 Zwischen den Jowel-Jahren ging jedermann alle sieben Jahre am Ende des Sabbatjahres bankrott.12 Damit sicherte die Bibel unter diesem Regime, dass die Menschen einerseits für ihre wirtschaftliche Aktivitäten belohnt wurden – reich sein ist keine Sünde –, anderseits jedem die grundlegendsten Produktionsmittel, nämlich Land und persönliche Freiheit, zugestanden wurden.

Auch außerhalb Israels, auch in einer Dienstleistungsökonomie können solche Ideen ein neues Gleichgewicht zwischen der Belohnung privater Initiativen und wirtschaftlicher Aktivitäten einerseits und dem Schutz persönlicher Chancengleichheit andererseits entstehen zu lassen, das uns helfen kann, die Dystopien eines Marshall Brain oder Stephen Hawking zu vermeiden.

Einige Vorschläge kursieren bereits:

  • Einführung eines „Universal Basic Income“ (jede und jeder soll über ein Grundeinkommen verfügen, weil zu erwarten ist, dass der ökonomische Schock des Masseneinsatzes von von künstlicher Intelligenz gesteuerten Robotern zu groß sein wird).
  • Einhebung von Steuern auf den Einsatz von Robotern13 (was nicht so einfach ist; denn wie definiert man, welche Roboter dieser Steuer zu unterwerfen sind und wie hoch die Steuer sein soll?14).
  • Erhöhung der Steuern auf Kapital und Erbschaft (wird besonders vermeiden helfen, dass Kapital sich in immer weniger Händen konzentriert, wird in der jetzigen Form aber kleine Investoren noch stärker bestrafen; man bräuchte eigentlich eine Art progressive Steuer für Unternehmen, wie es sie bereits für Individuen gibt, damit kleinere Unternehmen konkurrenzfähiger werden).
  • Mehr Interventionen der Gesetzgeber in multinationale Firmen (so sehen wir zuletzt eine aktivere, interventionistischere Haltung verschiedener europäischer Behörden ‒ Steuer, Datenschutz, Antitrust usw. ‒ gegenüber Google, Facebook, und Amazon), damit die Macht von De-facto-Monopolisten in Relation zu den kleinen Unternehmen geschwächt wird und Chancengleichheit entsteht.

Um der Dystopie eines Manna-Systems zu begegnen, müssten Gesetze geschaffen werden, die verhindern, dass so viele Daten gesammelt werden, es müsste einen besseren Arbeitnehmerschutz geben, kleineren Unternehmen müssten Vorteile gegenüber größere Unternehmen zugebilligt werden, obwohl damit an wirtschaftlicher Effizienz eingebüßt wird. Nach dem Vorbild von Schemitta müssten Datenbanken regelmäßig von bestimmten Inhalten gereinigt werden. Kopien der gereinigten Inhalte zu behalten müsste strafbar werden. Die Finanzmärkte müssten auch anders reguliert werden, damit kleinere Unternehmen eine Chance haben.

Dennoch werden all diese Maßnahmen nicht die Evolution der Technik verhindern. Wir werden unsere Einstellung zur Arbeit als Identitätsstifter grundsätzlich ändern müssen.

Auch dDie alternative Gesellschaft des „Project Australia“, der Utopie in Marshall Brains Buch „Manna“, basiert wie die biblische Utopie auf der grundlegenden Gleichheit aller Menschen, und istbeide sind dennoch kein gelebter Marxismus, denn . Ddafür sind die Menschen dort zu frei, um in ihrer Kreativität gehindert zu werden.

Aber sind sie in der Utopie von Marshall wirklich frei? Das Informationstechnologie-System, das in den Menschen eingepflanzt wird, erlaubt diesen zwar, sich vollständig in eine virtuelle Realität zu begeben, es kann den Körper aber auch autonom kontrollieren, um diesen zu veranlassen, etwa genug Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren. So stellt sich Marshall das System auch vor: nolens volens treiben die Bewohner Sport. Zwar werden die Menschen im „Project Australia“ respektvoller behandelt, aber wie im Film „The Matrix“, wo die Menschen nicht die Realität, sondern eine Scheinwelt wahrnehmen, sind sie nicht wirklich frei. Das System kennt die Gedanken der Menschen und verhindert illegale Aktivitäten. Schon die Idee, ein Verbrechen begehen zu wollen, wird mit einer Verwarnung geahndet. Ob gewollt oder nicht, wir finden hier ein Echo auf Orwells Buch „1984“, wo ja auch „Gedankenverbrechen“ bestraft werden.

René Descartes ging davon aus, dass er existiert, weil er denkt (Cogito ergo sum)15 konnte aber nicht beweisen, dass es irgendetwas anderes gibt als ihn selbst. Es wäre denkbar, dass nur er existiert, dass er nicht einmal einen Körper hat, sondern G“tt ihm mit unzähligen Tentakeln das Gefühl gibt, in einer bestimmten Realität zu leben, die aber eigentlich nur eine Scheinrealität ist. Descartes weigerte sich, so etwas zu glauben, da es grausam von G“tt wäre, ihn so zu täuschen.16 Marshall Brain hat den Albtraum von Descartes zu einer Utopie erhoben.

Wenn man es sich recht überlegt, unterscheiden sich die beiden Szenarien von Marshall Brain nicht so sehr voneinander. Gewiss würden wir alle, gäbe es keine anderen Alternativen, lieber in Marshall Brains „Project Australia“ als in seiner amerikanischen Dystopie leben, und doch werden in beiden Gesellschaften die Menschen von Computern kontrolliert. Zwar begegnet ihnen das eine Modell mit mehr Respekt, während das andere eine Katastrophe für all jene darstellt, die nicht zu den Steinreichen zählen. Dennoch sollten wir uns aber fragen, ob die beiden Szenarien die einzigen sind, die wir uns vorstellen können. Welche Gedanken bietet die jüdische Traditionsliteratur, damit wir uns eine andere Utopie vorstellen können?

Versuchen wir folgendes Gedankenexperiment: Stellen wir uns eine Welt vor, in der alle Grundbedürfnisse der Menschen abgedeckt sind, in der sie anständig ernährt und beherbergt werden. Was würden Menschen in so einer Welt tun? Befreit von der Verantwortung, die Grundlage der eigenen Existenz sichern zu müssen, würden die Menschen aufhören, produktiv zu sein? Würden sie einander bedrohen und von Eifersucht getrieben sein? Oder würde der Mensch die neu gewonnene Freiheit und Sicherheit dafür einsetzt, eine nächste Stufe der menschlichen Entwicklung zu erreichen? Eigentlich fragen wir danach, was die nächste Stufe der menschlichen Motivation sein könnte.

Seit eh und je haben das Judentum und die jüdische Geistesgeschichte sehr unterschiedliche Vorstellungen der messianischen Zeit toleriert und sogar kanonisiert. Auf der einen Seite gibt es fantastische Beschreibungen von einer kommenden Ära, in der übernatürliche Geschehnisse zum Alltag gehören werden. An der anderen Seite haben wir die von Maimonides bevorzugte Vorstellung vom talmudischen Weisen Schemuel (TB Berachot 34b), nach der es „keine Unterschiede zwischen dieser Ära und der Ära des Messias, mit Ausnahme des Jochs der (fremden) Mächte/Herrschaft“ gibt. So oder so sind die Spekulationen einer fantastischen Ära höchst interessant, denn sie sind gleichzeitig „bedingte Spekulationen“ nach der Art eines „Was wäre wenn“.

So lehrt der Talmud (TB Schabbat 30b):

Rabban Gamliel sagte: Dereinst werden die Bäume täglich Früchte hervorbringen, denn es heißt (Ezekiel 17:23):
Er wird Zweige treiben und Frucht bringen. Genau wie Zweige zu jederzeits herauswachsen, so auch werden die Früchte zu jederzeits hervorgebracht werden. Da spottete ein gewisser Schüler über ihn, indem er sprach (Prediger 1:9): Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Erwiderte [Rabban Gamliel]: Komm, ich will dir dergleichen auch auf dieser Welt zeigen. Da ging er hinaus und zeigte ihm einen Kapernstrauch (dessen Früchte dauernd hervorgebracht werden).
Abermals saß R. Gamliel und trug vor: Dereinst wird das Land Israel Brote und wollene Gewänder (fertig) hervorbringen, denn es heißt (Psalmen 72:16): es wird Überfluss von Korn im Landesein. Da spottete ein gewisser Schüler über ihn, indem er sprach: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Erwiderte [Rabban Gamliel]: Komm, ich will dir dergleichen auch auf dieser Welt zeigen. Da ging er hinaus und zeigte ihm Schwämme und Pilze (also fertiges Essen, dass in einer kurzen Zeit wächst), und bezüglich der wollenen Gewänder zeigte er ihm den Bast der jungen Palme (der ein Gewebe formt).

Gewiss können wir diese Vorstellung wörtlich nehmen und Rabban Gamliel zu denen zählen, die sich eine fantastische und mit Wundern gefüllte messianische Ära vorstellen. Aber wir können diese Vorstellung auch abstrahieren und Rabban Gamliel so verstehen, dass wir in der messianischen Ära nicht mehr so sehr um unser physisches Überleben kämpfen werden müssen. Sich Essen und Kleider zu beschaffen wird nicht mehr so viel Zeit und Aufwand in Anspruch nehmen.

Wenn wir aber unsere Zeit nicht mehr mit für das physische Überleben notwendigen Dingen füllen werden, was werden wir dann tun? Was wird sein, wenn wir in einem jüdischen „Project Australia“ landen?

Der Talmud (TB Berachot 35b) berichtet von einer grundlegende Menungsverschiedenheit, wie wir zu wirtschaftliche Aktivität stehen. Ist es gut, dass wir arbeiten müssen, oder ist es denkbar, dass wir auf Arbeit verzichten können?

Die Rabbanan lehrten [es steht] (Deuteronomium 11:14): Du wirst dein Korn einbringen ─ was lehrt dies? Es heißt (Joschua 1:8): nicht soll dieses Buch der Tora von deinem Munde weichen, somit könnte man glauben, man nehme dies wörtlich (und tue nichts anderes, als sich in der Lehre der Tora zu vertiefen), so heißt es: du wirst dein Korn einbringen ─ Benehme dich also normal, so Rabbi Jischmael.
Rabbi Simon Bar Jochai sagt hingegen: Ist es denn möglich, dass ein Mensch zur Zeit des Pflügens (lediglich) pflügte, zur Zeit des Säens (lediglich) säe, zur Zeit des Mähens (lediglich) mähe, zur Zeit des Dreschens (lediglich) dresche und zur Zeit des Windes (lediglich) worfele, was sollte aus der Tora werden? Vielmehr, wenn Jissraël den Willen G“ttes tut, wird seine Arbeit durch andere verrichtet, wie es heißt (Jeschaja 61:5): Fremde werden auftreten und eure Schafe weiden… Wenn Jissraël aber den Willen G“ttes nicht tut, muss seine eigene Arbeit selbst verrichten, wie es heißt: Du wirst dein Korn einbringen; und nicht nur das, sondern auch die Arbeit anderer muss durch ihn verrichtet werden, wie es heißt (Deuteronomium 28:48): Du wirst deinen Feinden dienen…

Sowohl Rabbi Schimon Bar Jochai als auch Rabbi Jischmael, die beide hochgeschätzte Thora-Gelehrte waren, setzten sich für ein mit der Thora gefülltes Leben und damit gefüllte Gesellschaft ein. Was Rabbi Jischmael aber als materiellen Segen G“ttes sieht („Du wirst dein Korn einbringen“), sieht Rabbi Schimon Bar Jochai als ein Glas, das nicht einmal halb voll ist, denn diesen Segen wird der Mensch nur erhalten, wenn er arbeitet, sich bemüht und das Brot mit dem Schweiß seines Antlitzes heimbringt. Viele wünschten sich ein Leben nach Rabbi Schimon Bar Jochai, aber nur die wenigsten könnten sich das leisten. Kaum jemand erlebt so ein Wunder, und nur die Reichsten können sich leisten, andere arbeiten zu lassen, während man sein eigenes Leben der Lehre und der Geistigkeit widmet.

Abajje sagte: Viele handelten nach Rabbi Jischmaël und waren erfolgreich; nach Rabbi Simon Bar Johaj und waren nicht erfolgreich. Rawa sprach zu seinen vornahmen Schülern: Ich bitte euch, erscheint vor mir nicht in den Tagen des Nissan (als gesäht und geackert wird) und des Tischrej (als die Ernte heimgebracht wird), damit ihr nicht wegen eures Erwerbes das ganze Jahr zu sorgen habt. (ebd.)

Rawa warnte zwar seine Schüler, nicht nach dem unrealistischen Leitfaden von Rabbi Schimon Bar Jochai zu leben, sondern ihre Felder weiterhin zu bearbeiten, auch wenn sie dafür ihre Studien im Lehrhaus für mehrere Wochen unterbrechen müssen. Dennoch dürfen wir, die wir 1600 Jahr später, in der informationstechnologischen Periode der industriellen Revolution, leben, fragen, ob nicht jetzt eine Zeit kommt, in der das Ideal von Rabbi Schimon Bar Jochai Realität wird, und zwar für jedermann. Kann es sein, dass diese Robotik-Revolution, die sich jetzt entfaltet, nicht eine Misere, sondern einen Segen bringt, sodass jeder Mensch sich nun frei von jeglichem Kummer der Geistigkeit widmen kann? Ist das ein Leitfaden in die nächste Stufe der Evolution der Menschheit?

Solch ein geistiges Zukunftsbild muss sich übrigens nicht als innerjüdische Entwicklung begrenzen, sondern kann die Tore der Geistigkeit, der G“ttesnähe für alle Menschen öffnen. Da denken wir an der prophetischen Vision Jesajas, in der die jüdische Identität und Besonderheit bestimmt nicht aufgelöst wird, dennoch aber die ganze Welt die Lehre G“ttes sucht (Jesaja 2:3-4):

Es wird in späteren Zeiten geschehen, dass der Berg des Hauses des Ewigen festgegründet an der Spitze der Berge stehen und über alle Höhen erhaben sein wird, und es werden ihm alle Heiden zuströmen; und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns wallen zum Berge des Ewigen, zum Hause des G“ttes Jakobs, dass er uns belehre über seine Wege und wir wandeln auf seinen Pfaden! Denn von Zion wird die Lehre ausgehen und des Ewigen Wort von Jerusalem.

Die Robotik-Revolution kann unheimliches Unglück bringen, es sei denn, unsere Gesellschaft führt bestimmte grundlegende Änderungen ein. Solche Änderungen werden die Menschenwürde vom Beruf und von der Arbeit unabhängig machen, sie drohen uns aber in einem Disney-artigen Freizeitdorf vor lauter Langeweile untergehen zu lassen. Das ist immerhin besser als das Szenario des unheimlichen Unglücks, aber es ist nicht genug. Vielleicht entstehen aber ausgerechnet jetzt ein Tor und ein Weg, die uns halbwegs zur messianischen Ära führen, in der Menschen sich der Geistigkeit und der Nächstenliebe widmen können. Zwar fällt es uns schwer, sich so etwas vorzustellen, aber vielleicht ist es nur schwer, weil wir noch so tief im Sumpf der krassen menschlichen Bedürfnisse stecken, dass wir nicht so weit hinausschauen können. Dennoch dürfte die nächste Stufe der menschlichen Entwicklung die der allgemeinen Geistigkeit und G“ttesnähe werden. Oder nicht. Wir haben die Wahl.

Siehe, es kommen Tage, spricht der HERR, der Ewiger G“tt-Allmächtiger, da werde Ich einen Hunger senden ins Land, nicht einen Hunger nach Brot, noch einen Durst nach Wasser, sondern danach, die Wörter des Ewigen zu hören. (Amos 8:11)

Fußnoten

5Als E-Book erhältlich, oder online hier zu lesen: http://marshallbrain.com/manna.htm

9Cf. Numerii 26:53-57

10Leviticus 25:23

11Ebd. Vers 10

12Deuteronomium 15:2

13Bill Gates, The Robot that Takes your Job should Pay Taxes: https://qz.com/911968/bill-gates-the-robot-that-takes-your-job-should-pay-taxes/

14What‘s Wrong with Bill Gate‘s Robot Tax? https://www.bloomberg.com/view/articles/2017-02-28/what-s-wrong-with-bill-gates-robot-tax
Malcolm James, Here’s how Bill Gates’ plan to tax robots could actually happen, Business Insider, 20th of March 2017: http://www.businessinsider.de/bill-gates-robot-tax-brighter-future-2017-3?r=US&IR=T

15René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Zweite Meditation

16Ebd. Erste Meditation

One Response to Robotik, artifizielle Intelligenz und jüdische Utopie

  1. […] Vision einer Utopie vor, in der wir weniger konsumieren und mehr Genugtuung am Leben haben (Robotik, artifizielle Intelligenz und jüdische Utopie, Das jüdische Echo 2017/18). Hinter vielen Formen von Klimaaktivismus aber steckt ein […]

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