
Rekonstruktion des Inneren des Heiligtums im 1. Tempel Jerusalems – © Temple Institute
Für alles braucht man Glück, auch die Torarollen im Toraschrein brauchen Glück, lautet ein bekannter jüdischer Spruch aus dem Buch Sohar (Nasso 134). So ist es auch mit den heiligen jüdischen Tagen – manche sind bekannter, während andere weniger Popularität genießen. Zu den letzteren gehört der kürzeste Fasttag des Jahres, der 10. Tewet, der diesmal auf Dienstag, den 7. Januar 2020 fällt.
Weniger populär heißt aber nicht weniger bedeutend, und hinter diesem Fasttag verstecken sich einige erstaunliche Geschichten und profunde Deutungen.
Dies ist eine vollständigere Version eines Artikels, den ich in der Jüdischen Allgemeine veröffentlichte.
Allgemein bekannt ist, dass am 9. Aw sowohl der Erste als auch der Zweite Tempel zerstört wurden. Beide Tempel waren gigantische Bauwerke, und Jerusalem war sowohl zur Zeit der Zerstörung des Ersten als auch des Zweiten Tempels eine wichtige Stadt, die von einer mächtigen Mauer umgeben war. Entsprechend fand die Zerstörung der Stadt nicht in einem einzigen Augenblick statt, sondern die Stadt wurde zuerst während vieler Monate belagert.
Der 10. Tewet ist der Tag, als das babylonische Heer bei Jerusalem ankam und die Belagerung der Stadt einleitete (II. Könige 25, 1–2, Jirmijahu 52, 4–5). Anderthalb Jahre später, am 9. Aw, zerstörte Nebukadnezar den Tempel. Erst sechs Monate später, am 5. Tewet, erfuhr der Prophet Jecheskel von der Zerstörung (Jecheskel 33,21).
Damit gewinnt der Fasttag des 10. Tewet eine doppelte Bedeutung: Er ist sowohl das traurige Jubiläum des Anfangs vom Ende als auch der Jahrestag der traurigen Nachricht von der Zerstörung, die Babylons Juden erreichte (siehe Babylonischer Talmud, Rosch Haschana 18b).
Anders als im Zusammenhang mit dem 17. Tamus und dem 9. Aw weiß unsere Tradition nicht von zahlreichen Ereignissen, die sich ebenfalls am 10. Tewet ereigneten. Dennoch gedenken wir weiterer historischer Begebenheiten, die zeitnah – im Kalender, aber in anderen Jahrhunderten – geschahen.
Die erste Übersetzung
Der Tradition nach wurde die Septuaginta, die erste Übersetzung der Tora ins Griechische, am achten Tag des Monats Tewet vollendet (es ist aber nicht eindeutig, dass der Text der heutigen Septuaginta identisch mit jener ersten Übersetzung ist). Wenn wir heute einen klassischen Text ins Deutsche oder Englische übersetzen, dann feiern wir diese Übersetzung.
Wir feiern sie, weil wir sie leider brauchen. Die Septuaginta war das erste Kulturwerk, durch das der Verlust der Hebräischkenntnisse der hellenisierten, ja assimilierten Juden von Alexandrien in Ägypten greifbar wurde. Eine Übersetzung ist nie perfekt und kann das Original nicht ersetzen, aber das Original war eben für viele Juden nicht mehr verständlich, was sehr traurig ist.
Außerdem bedeutet eine Übersetzung immer, dass Menschen den Text durch selektive Zitate falsch verstehen können, oder dass er böswillig ausgelegt wird. Dass Antisemiten den Talmud durchsuchen, um irgendwelche Zitate aus ihrem Kontext zu reißen und das Judentum schlechtmachen, hat inzwischen leider eine jahrhundertelange Tradition.
Die erste Bücherverbrennung, die Talmudverbrennung von 1240 auf dem Platz vor der damals nagelneuen Kathedrale von Notre Dame in Paris, war die Folge der Verleumdungen eines getauften Juden namens Nicholas Donin, die auf aus ihrem Zusammenhang gerissenen böswillig interpretierten Talmud-Zitaten basierten. Jahrhunderte später schrieb Heinrich Heine prophetisch: »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.«
Dennoch scheuen wir uns heute nicht vor Toraübersetzungen, weil viele Texte ohnehin bereits übersetzt wurden, so dass das mit einer besseren Übersetzung öffentlich zugänglich machen der Texte meistens eine deutliche Steigerung der Ehre der Tora mit sich bringt. Mit jeder neuen Übersetzung machen wir die Tora auch für mehr Juden zugänglicher. Das war aber nicht immer so, und deshalb wurde die Vollendung der griechischen Übersetzung des Pentateuchs vielmehr als Tragödie eingestuft. So zitiert Rabbi Jaakow Ba’al haTurim im 14. Jahrhundert (Tur Orach Chajim 580): »Am achten Tag des Tewet wurde die Tora ins Griechische übersetzt – das war zur Zeit des König Ptolemäus, und die Welt geriet drei Tage in Finsternis.«
So kommt es, dass der 8. Tewet als freiwilliger Fasttag gilt. In der Annahme, dass kaum jemand zweimal innerhalb dreier Tage fasten wird, erwähnen die besonderen Selichot zum 10. Tewet auch die Vollendung der griechischen Toraübersetzung.
Ein geheimnisvolles Datum
Merkwürdig ist dabei, dass auch der 9. Tewet als freiwilliger Fasttag gilt (siehe das erwähnte Kapitel des Tur). Er kommt in einer langen Liste freiwilliger Fasttage vor, fällt aber auf, weil der Tur und der Schulchan Aruch mitteilen, dass der Grund für diesen Fasttag unbekannt ist.
Rabbiner Prof. Shneier Zalman Leiman von der Yeshiva University und der City University of New York belegt hingegen, dass dieser Fasttag auf einer geheimnisvollen Tradition beruht. Er soll der Todestag eines gewissen Schimon Kalponi oder Simon Kaiaphas sein, der zu einer Zeit lebte, als das Christentum noch eine jüdische Sekte war.
Schimon war Teil des höchsten Rabbinerkollegiums, das wegen der Gefahr christlicher Missionare sehr besorgt war. Als die Rabbiner einen Weg suchten, um die Missionare abzuwenden, meldete sich Shimon zu Wort. Er wusste, die Bedrohung sei groß und bedürfe einer außergewöhnlichen Lösung.
Sein Vorschlag: Er wolle sich der neuen Sekte anschließen und die Christen in eine neue Richtung lenken, damit sie Römer und Griechen missionierten, aber keine Juden. Die Rabbinerkollegen waren einverstanden. Schimon bekannte sich zum Schein öffentlich zum Christentum und eiferte, um den Blick des Christentums auf die nichtjüdische Welt zu richten, was auch geschah.
Damit die große Tat von Schimon nicht vergessen wird, wurde sein Todestag als geheimnisvoller freiwilliger Fasttag eingeführt. Es wurde geheimnisvoll gehalten, weil es in einer christlich dominierten Welt, in der gewalttätige Judenhassausbrüche zum Alltag gehörten, Gewaltausbrüche auslösen konnte. Sein literarisches Erbe ist das Nischmat-Gebet, dass wir am Schabbat am Ende der Pessukej deSimra (Lobverse) sprechen.
Die fünf Strophen des Textes bilden ein Akrostichon, dass rückwärts gelesen »Schimon« lautet. Das Wort »Nischmat« weist auf den Buchstaben Nun von Schimon hin. Dieser Tradition zufolge brachte es Schimon in der Kirche sehr weit – er wurde Peter, der erste Papst.
Gesetze
Der 10. Tewet ist der einzige Fasttag, der auf einen Freitag fallen kann und an dem auch in diesem Fall gefastet wird. Rabbiner David Avudraham (14. Jahrhundert) erklärt dies damit, dass der 10. Tewet an den Anfang der Zerstörung erinnert.
Obwohl das Fasten am 10. Tewet weniger lang vorgeschrieben ist als am 9. Aw, an dem man hingegen 25 Stunden fastet, ist er in dieser Hinsicht strenger einzuhalten, denn sogar am Freitag wird gefastet. Allerdings fängt der Fasttag nicht schon am Abend an, sondern erst mit der Morgenröte, und dauert bis Einbruch der Nacht. Verboten sind im Gegensatz zum 9. Aw und Jom Kippur auch nur Essen und Trinken, nicht aber Lederschuhe, das Waschen und der Geschlechtsverkehr.
Jom haKaddisch haKelali
1950 wählte das Oberrabbinat Israels den 10. Tewet aus, um an diesem Tag des Todes jener Märtyrer unseres Volkes zu gedenken, deren Todestag unbekannt ist. An diesem Tag soll auch für jene Opfer der Schoa, deren Todestag unbekannt ist, Kaddisch gesagt werden.
Hoffnung
Auf die vier Fasttage hinweisend, die wegen der Zerstörung des Tempels eingeführt wurden, prophezeite Secharja: »So spricht der Ewige der Heerscharen: Das Fasten im vierten Monat (Tamus), das Fasten im fünften Monat (Aw), das Fasten im siebenten Monat (Tischrej, Zom Gedalja) und das Fasten im zehnten Monat (Tewet) soll dem Hause Juda zur Freude und Wonne werden und zu angenehmen Festtagen. Liebet ihr nur die Wahrheit und den Frieden!«
Diese Prophezeiung wird sich verwirklichen, wenn der Maschiach kommt, mögen wir alle diesen Tag erleben.