Welche Tora ist von welchem Sinai?

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Zu Schawuot feiern wir das Jubiläum der Offenbarung am Berg Sinai. Über die Tora sagen wir, dass sie von Sinai ist, aber welche Tora ist von welchem Sinai?

Im Film „The Chosen“ (Der Erwählte, 1981) erklärt Prof. David Malter, gespielt von Maximillian Schell, seinem Sohn Reuven, gespielt von Barry Miller, was der wesentliche Unterschied zwischen seinem Glauben und dem von Reb Saunders (Rod Steiger) ist: Reb Saunders glaubt, dass die Tora Wort für Wort von G“tt dem Mosche diktiert wurde, während er, Prof. Malter glaubt, dass G“tt Mosche inspirierte, die Tora zu schreiben. Wie so häufig in Hollywood, weicht der Film hier in wichtigen Details vom Original von Chaim Potok ab. Chaim Potok versuchte, einen Spagat innerhalb der Orthodoxie zu beschreiben (insbesondere, die Differenzen zwischen Mitnagdim und Chassidim) und zwei unerwartete Freunde diesen Spagat überbrücken zu lassen, während der Screenwriter Edwin Gordon weniger in den Feinheiten der innerorthodoxen Differenzen bewandert zu sein scheint und aus Prof. Malter einen Conservative, also Theologen der in den USA verbreiteten liberalen jüdischen Richtung macht.

Tatsächlich gehört die Überzeugung, dass die Tora „von Sinai“ kommt, zu einem Kernprinzip des traditionellen Judentums. In der dichterischen Darstellung „Jigdal“ der 13 Glaubensgrundsätzen Maimonides heißt es diesbezüglich:

Die wahre Lehre gab G“tt seinem Volk /

durch die Hand seines Propheten, dem treuesten seines Hauses.

Nicht wird G“tt ändern, noch auswechseln sein Gesetz/

für ein anderes verwerfen, niemals.

In der ursprünglichen philosophischen Auslegung Maimonides heißt es, dass die gesamte Tora von G“tt ist. Maimonides‘ Auslegung basiert auf dem Talmud (Sanhedrin 99a), nach der auf den, der behauptet, „die Tora sei nicht vom Himmel“ das zutrifft, was geschrieben steht (4. B.M. 15:31): „Denn er hat das Wort des Ewigen verachtet und sein Gebot gebrochen“. Nach einer anderen talmudischen Erklärung bezieht sich der, „der das Wort des Ewigen hat verachtet“ auf einen G“ttesleugner. Damit lässt sich schließen, dass den g“ttlichen Ursprung der Tora in Frage zu stellen, gleicht dem, die Existenz G“ttes in Frage zu stellen.

Liberale Theologen fühlten sich damit unwohl: Sie wollten nicht an der Authentizität der sinaiitischen Offenbarung festhalten und erst nicht an einer Offenbarung, die inhaltlich von G“tt war, denn eine inhaltlich g“ttliche Offenbarung könnte der Mensch nicht abändern. Für konservative Denker war eine Verwerfung des Glaubens an der sinaiitischen Offenbarung zu gewagt, und sie schlugen einen Kompromiss vor: G“tt hätte Mosche inspiriert, die Tora zu schreiben.

Rabbiner Mordechai Breuer äußerte eine vernünftige Kritik dieser liberalen Auffassung und erklärte damit, wieso das traditionelle Judentum unverändert an der Authentizität und dem Inhalt der sinaiitischen Offenbarung festhielt – und festhalten wird: Sollte man annehmen, dass die Tora ihren besonderen Status genießt, weil sie ein Werk der Prophezeiung ist, dann müssten gleich alle Bücher des Tanachs diesen Status bekommen. Das Resultat sollte also nicht eine Relativierung des Pentateuchs, sondern eine Aufwertung der gesamten hebräischen Bibel zur Folge haben (was aber nicht das Ziel jener ist, die an der Authentizität der sinaiitischen Offenbarung zweifeln wollen). Nein, der Pentateuch, die fünf Bücher Mosche, bilden eine Ausnahme, etwas Einzigartiges, weil sie eben nicht „nur“ Prophezeiung sind. Nur so lässt sich erklären, weshalb quer durch die jüdische Geschichte hindurch, trotz aller Herausforderungen, Juden an der Tora festhielten und sie nicht dem Zeitgeist anpassten. Wer die Tora dem Zeitgeist gemäß modernisierte, blieb auch nicht besonders lange dieser „neuen“ Tora treu.

In den Worten von Rabbiner Mordechai Breuer:

Seit der Antike haben unsere Weisen nie daran gedacht, die fünf Bücher Mose mit anderen Prophezeiungen gleichzusetzen. Sie betrachteten die Gleichung nicht als richtigen Glauben, sondern als völlige Häresie. Der Status von Moses unterscheidet sich von Natur aus von dem aller anderen Propheten. Diese sahen G“tt in [ihren] Vision[en] durch ein dunkles Glas; Sie hörten Seine Stimme als ein Rätsel, das einer Klärung und Interpretation bedurfte. Als sie anschließend G“ttes Botschaft an die Menschen weitergaben, als sie sie niederschrieben, konnten sie nicht wörtlich vermitteln, was sie gesehen und gehört hatten. Stattdessen nahm jeder seinen eigenen Stil und seine eigene Sprache an. Moses war anders. Der treue Diener in G“ttes Haus, zu dem G“tt sprach, als man sich mit einem Gefährten unterhält; er nahm G“tt sozusagen durch ein klares Glas wahr und hörte, wie seine Botschaft präzise ausgedrückt wurde. Deshalb schrieb Mose die Worte der Tora so, wie G“tt sie sprach, ohne seine eigenen zu injizieren. So war die Tora von Moses buchstäblich min ha-shamayim [vom Himmel]; Der Gesetzgeber rief seinen Propheten selbst in den Himmel. „Wie ein Autor, der seinem Schreiber ein Buch diktiert“, diktierte G“tt seinem Propheten von Anfang bis Ende die Tora.i

Das Zitat ist auch deshalb so besonders, weil Rabbiner Breuer selbst die Methoden der Bibelkritik akzeptierte, allerdings nicht ihre Interpretation der Gegebenheiten. Nicht viele Autoren – wie Bibelkritiker behaupten –, sondern verschiedene Stimmen G“ttes, mit denen Er uns anspricht, ist das, was die Bibelkritiker entdeckten, so Rabbiner Breuer. Damit gilt Rabbiner Breuer als einer der diesbezüglich liberaleren Denker. Nichtodestrotz hielt er unverändert an der Kohärenz der Tora und an der Historizität der Offenbarung am Berg Sinai fest, weil diese unverändert grundlegender Bedeutung ist, und ohnehin nicht unvernünftig ist.

Dennoch dürfen wir unser Verständnis der Offenbarung am Berg Sinai und der Offenbarung der Tora vertiefen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Text des Pentateuchs am Berg Sinai offenbart wurde, da er doch Ereignisse beschreibt, die sich erst in den 39 darauffolgenden Jahren entfalteten. Als Mosche das Zehnwort G“ttes dem Volk auslegte, stand nicht in den Sternen, dass das Volk innerhalb von 40 Tagen ein goldenes Kalb machen wird; sie hätten sich auch anders entscheiden können, genauso wie auch mit vielen anderen späteren Ereignissen.

Im Talmud (Gittin 60a) finden wir zwei Meinungen bezüglich dessen, wie die Tora niedergeschrieben wurde: Nach Rabbi Jochanan wurde die Tora Abschnitt für Abschnitt geschrieben und veröffentlicht. Sprich: Während der 40-jährigen Wüstenwanderung beauftragte G“tt Mosche immer wieder, noch einen Abschnitt zu schreiben. Am Ende der 40 Jahren war die Tora vollständig. Nach Rabbi Schimon Ben Lakisch wurde die Tora erst am Ende der Wüstenwanderung als fertiges Werk auf einmal veröffentlicht. So oder so wurde die Tora – wenigstens die letzten vier Bücher der Tora – von einer Hand auf Geheiß G“ttes geschrieben: Von der Hand Mosches.

Was wurde nun am Berg Sinai offenbart? Nicht nur das Zehnwort, sondern mindestens alle Mizwot. So schreibt Raschi (2.B.M. 24:12):

Alle sechshundertdreizehn Gebote sind in den Zehn Worten enthalten und können daher als auf die Tafeln geschrieben angesehen werden. Rabbi Saadia hat in seinen As’harot (ein Kommentar zum Zehnwort in der dichterischen Form) angegeben, welche Gebote mit jedem der Zehn Worte verbunden sein können.

Anderswo (3.B.M. 25:1) präzisiert er: Alle Gebote, einschließlich ihrer generellen Regeln und detaillierten Gesetzen wurden am Berg Sinai befohlen.

Nach Nachmanides existierte der gesamte Text der Tora bereits, allerdings nicht in einer von uns lesbaren Form, sondern als schwarzes Feuer auf weißem Feuer und ohne Leerschläge, so dass die finale Form des Textes eine andere hätte sein können.

Der Talmud (Bawa Batra 15a) setzt sich mit der Frage auseinander, ob und wie Mosche die Geschichte seines eigenen Todes schreiben konnte. Aus heutiger Sicht scheint mir diese Frage nicht so schwer; es ist ja nicht nur einmal oder zweimal vorgekommen, dass jemand seinen eigenen Nachruf schrieb. Aber im Talmud finden wir zwei Meinungen: Entweder hat der Nachfolger Mosches, Jehoschua, die letzte acht Verse der Tora abgeschrieben, oder schrieb Mosche sie – auf Geheiß G“ttes – mit Tränen. Auf dieser Basis wollten manche gegenwärtigen Anhänger einer liberaleren Theologie vorschlagen, dass es für den Talmud ja akzeptabel sei, zu glauben, der Pentateuch wäre von verschiedenen Autoren geschrieben. Dies müssen wir aber verneinen. Wie Rabbiner Mordechai Breuer diesbezüglich bemerkte, dass es weniger ausmache, wer die Wörter der Tora physisch niedergeschrieben habe, ob Mosche oder Jehoschua. Das Wesentliche ist, wer der Urheber dieser Worte ist, und da sagt die jüdische Tradition eindeutig, dass diese Worte, auch wenn sie erst am Ende der Wüstenwanderung niedergeschrieben wurden, mi-Sinai (von Sinai) sind. Sinai ist nicht nur ein Berg, und was dort geschah, ist nicht nur die Offenbarung des Zehnwortes, sondern die gesamte Offenbarung Mosches.

Dennoch wurden nicht zwingend alle halachischen Einzelheiten der Tora-Gesetze dem Mosche offenbart. So lehrt der talmudische Weise Rabbi Abahu (Midrasch Tanchuma Ki Tissa §16): Hat denn Mosche [während seiner 40 Tagen auf dem Berg Sinai] die gesamte Tora lernen können, ist sie doch breiter, als die Welt selbst (nach Ijow 11:9)?! Viel eher lehrte G“tt dem Mosche die Regel, wie die Tora zu interpretieren sei. Wohl zu verstehen meint Rabbi Abahu nicht, dass Mosche aus eigener Interpretation den Pentateuch schrieb. Viel eher meint er damit, dass nicht zwingend die gesamte mündliche Tora am Berg Sinai veröffentlicht wurde. Es hat gereicht, dass G“tt Mosche beauftragte, nach bestimmten Methoden, Seine Tora zu interpretieren, und daraus entstanden möglicherweise wichtige Teile der mündlichen Überlieferung. Dennoch gelten diese auch als De-Oraita (aus der Tora) und somit als mi-Sinai.

Wenn wir zu Schawuot das Jubiläum der Offenbarung feiern, dann nicht von einer minimalistischen Tora, die wir aus unserem Leben zu verdrängen versuchen, sondern feiern wir die gesamte Tora in allen ihren zahlreichen profunden Aspekten.

(Eine frühere Fassung dieses Artikels erschien zu Schawu’ot 5781 / Mai 2021 im BTJ Magazin)

Fußnote

iMordechai Breuer, The Study of Bible and the Primacy of the Fear of Heaven: Compatibility or Contradiction, in Orthodox Forum, New York, 1996

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