
Der Tora-Wochenabschnitt Mass’ej erzählt von 42 Stätten, an denen das Volk Israel während der 40 Jahren der Wüstenwanderung, vom Auszug aus Ägypten bis seiner Einreise ins verheißene Land, sein Lager aufgeschlagen hatte. Auf dem ersten Blick wirkt diese List eher belanglos; was macht es aus, wo sie besuchten?
Da ihre Anwesenheit an diesen Orten zeitlich beschränkt war, haben sie keine architektonische Bauwerke hinterlassen, keine Friedhöfe angelegt, keine Mausoläen gebaut und die Landschaft nicht erheblich verändert. Diese Stätten waren Oasen in der Wüste oder Dörfer am Rande der Wüste und keine Machtzentren; dort haben sie so möglich keine Kriege geführt1 und gingen Konflikte lieber aus dem Weg.2
Wenn sie dort weder was Wesentliches mitgenommen noch hinterlassen haben, was für eine Bedeutung haben diese Stationen ihrer Reise?
Aus Sicht der materiellen Kultur hat der Aufenthalt unserer Vorfahren an diesen Stätten keine Bedeutung, aber die jüdische Geschichte ist nicht nur eine materielle Geschichte. Unsere Geschichte kann man nicht auf archäologischen Ausgrabungen beschränken. Viel eher besteht unsere Geschichte hauptsächlich aus der Geistesgeschichte, aus dem spirituellen, moralischen, ethischen und intellektuellen Beitrag des jüdischen Volkes und prägt diese Geschichte uns bis dem heutigen Tag. Aus dieser Perspektive gewinnen die 42 Stationen plötzlich an Deutung.
Es sind nicht Bauwerke, Gräber oder Landschaften, die hier im Mittelpunkt stehen, sondern die Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge. Wer hat sie nicht, Photos, die keinen besonderen künstlerischen Wert haben, uns aber trotzdem am Herzen gewachsen sind, weil sie uns an bestimmten Erfahrungen erinnern? Sie erinnern an den ersten Schritten eines Kindes, an dem Moment, als eine Frau sich in ihrem Mann verliebte, an einem Ort der heiligen Inspiration, oder an einer schweren moralischen Entscheidung, die trotzdem richtig getroffen wurde.
So auch mit dieses Stationen:
- Aus Ra’mses zogen wir dank höherer Hand aus Ägypten;
- bei Pi haChirot wurden wir vom ägyptischen Heer fast eingefangen, aber ein Weg erschien im Meer, auf dem wir flüchteten. Das ägyptische Heer aber ertrank nachher auf dem gleichen Weg im Meer.
- In Refidim gab es kein Wasser – damit meint die Tora, dass uns sowohl flüssiges Wasser also auch Wasser für die Seele fehlte, Körper und Geist waren trocken.
- Bei Kiwrot haTaawa kannten wir ein großes Misserfolg. Statt vor dem Wunder zu staunen, dass G“tt uns in der dürren Wüste ernährte, verlangten wir Fleisch, als ob ohne Barbeque wir wie ein mit Bezin vollgetankten Dieselauto sind, der nicht mehr starten kann.
- Andere Ortsnamen, wie Kehejlata und Makhelot, zeigen auf unsere Einheit hin; in ihren Namen finden wir die gleiche Wurzel wie in Kehilla, Gemeinde.
- Schließlich kommen wir an die Grenze von Edom und damit fast an die Grenze Israels an. Aharon, der Bruder Mosches, stirbt; das ist traurig, zeigt aber auch, dass wir gerade vor einem Generationswechsel bevorstehen: wir haben endlich die Lehre verarbeitet und werden auch ohne dem großen Lehrer weiterhin gute Anführer und Lehrer haben und endlich ins Heilige Land einziehen.
So viele Erinnerungen, so viele Emotionen; wer möchte so was vergessen? Viel eher sind diese Ereignisse nicht nur Teil der jüdischen Geschichte, sondern der jüdischen Gegenwart und Zukunft, da nicht nur das Reiseziel, sondern der Weg dorthin zählt.
So ist auch auf dem persönlichen, individuellen Lebensweg. Unsere Ziele sind wichtig und wir haben sie durchdacht und gut auszuwählen. Aber Erfolg ist nicht nur eine Destination, sondern vielmehr ein Weg. Dieser Weg besteht sowohl aus vielen kleinen Erfolgsgeschichten, als auch Misserfolge. Es gilt, mehr Erfolge als Misserfolge zu erreichen, aber hauptsächlich nie die Mut zu verlieren, diesen Weg zu gehen, denn der Weg ist das Leben. Auch wenn man noch längst nicht angekommen ist, ist ein Weg, der viele geistige und moralische Erfahrungen kennt, ein heiliger Weg.
Fußnoten
1Die zwei Ausnahmen sind der Krieg gegen Amalek im 2. B.M. am Anfang der vierzigjährigen Wüstenwanderung, und der kurze defensive Krieg gegen einer nicht näher identifizierten kanaatischen Gruppe ebd. 21:1-3 fast 40 Jahren später (nach einem bekannten Midrasch kamen sie zwar aus dem südlichen kanaanitischen Territorium, waren aber wieder Amalek). Ganz am Ende der vierzig Jahren finden die ersten Eroberungskrieg des Einzug ins verheißene Land statt, gegen den Emoriter unter dem König Sichon (ebd. 21:24-31) und gegen Baschan unter dem König Og in ebd. 33:35, sowie auch eine Strafexpedition gegen Midjan (ebd. 31:1-12).
2Cf. 4. B.M. 20:14-21, 21:21-23, Richter 11:12-28.