Wenn wir irgendeine beliebige Gruppe von Juden fragen würden, was die schwierigste Mizwá in den Zehn Worten ist, würden viele sagen: die Pflicht, den Schabbat zu halten. Wenn wir fragen würden, welche Mizwá in den Zehn Worten eine ideale Gesellschaft gemäss der Torá am stärksten von unserer heutigen westlichen Welt unterscheidet, würden viele wiederum den Schabbat nennen.
Dem kann man jedoch widersprechen. Der Schabbat unterscheidet uns in der Tat von allen anderen Völkern, so wie wir im Ma‘aríw-Gebet zum Schabbateingang und noch einmal in Schacharít und beim Kiddúsch danach sagen: בֵּינִי וּבֵין בְּנֵי יִשְׂרָאֵל אוֹת הִוא לְעֹלָם ‘zwischen Mir und den Kindern Israels sei er ein ewiges Zeichen’ (Schemót 31:17). Sicherlich ist es auch nicht immer einfach, den Schabbat zu halten. Die Schabbat-Vorschriften sind sehr zahlreich und werden mit komplexen Regeln hergeleitet. So betonen unsere Weisen auch, dass der Schabbat ein Beispiel für eine Mizwá ist, die כְּהַרָרִים הַתְּלוּיִם בִּשְׂעָרָה ist, ‘wie Berge, die an einem Haar hängen’ (Mischná Chagigá 1:8).1 Damit ist gemeint, dass die Grundlage für die Fülle von Vorschriften recht wenige Verse in der Torá sind, die kaum in die Einzelheiten gehen. Andererseits ist der Schabbat auch eine besonders lohnende und erhebende Zeit, nicht zuletzt wegen seines radikalen und weltfernen Wesens. Das hat auch eine Kolumnistin der New York Times bemerkt, die anfing, den Schabbat zu halten, obwohl sie sich als eine säkulare Jüdin betrachtete.2 Wie Achad ha-Am gesagt hat, tut der Schabbat mehr für die Juden, als die Juden für den Schabbat tun.
Dennoch ist die Mizwá, die die Gesellschaft am radikalsten verändert, wohl nicht der Schabbat. Eher ist es die Mizwá in den Zehn Worten, der wahrscheinlich am wenigsten Aufmerksamkeit geschenkt wird: לֹא תַחְמוֹד ‘du sollst nicht begehren’. Diese Mizwá ist eine der wenigen, die vorwiegend im Herzen erfüllt werden. Sie verlangt, dass wir unsere materiellen Wünsche der Selbstkontrolle, dem Geist, dem Herzen des Menschen unterwerfen.
Der Geist muss die Gedanken beherrschen. Du sollst nicht begehren! Wie kann man denn nicht begehren? Können wir uns so sehr kontrollieren, dass wir bestimmte Gedanken zurückdrängen können? Können Sie es eine Minute lang oder nur 30 Sekunden lang vermeiden, an einen rosa Elefanten zu denken, dessen Rücken voll von Stacheln ist wie bei einem Igel? Natürlich nicht. Sobald man uns sagt, dass wir nicht denken sollen, werden wir garantiert das Gegenteil tun, denn so ist die Natur unseres Intellekts.
Wie sollen wir also diese Mizwá erfüllen? Anders als bei anderen Verboten, können wir nicht warten, bis sich die Gelegenheit bietet, zu begehren, um dann das Begehren zu vermeiden. Können wir ständig von unserem Materialismus durchdrungen sein und trotzdem nicht anfangen zu träumen, wenn wir einen Lamborghini oder eine schöne Jacht sehen, oder was immer das Objekt unserer Begierde sein mag?
Die Torá will eine andere Gesellschaft. Nicht eine, in der es gar keine Konkurrenz gibt, aber eine, in der wir die richtigen Prioritäten setzen und nicht bloss verstehen, sondern auch fühlen, dass es zwar Spass macht, die Ferien in fürstlichem Stil zu verbringen, aber dass das letztlich nicht das ist, worauf es ankommt. לֹא תַחְמוֹד bedeutet auch zu akzeptieren, dass andere etwas haben, was ich nicht habe, und sich dabei über die Freude anderer zu freuen. Es bedeutet, dass man den Geist – und die Gemeinschaft – über persönliche materielle Befriedigung stellt.
Solche Eigenschaften können wir nicht über Nacht entwickeln. Wir dürfen vielmehr unser eigenes Projekt aufbauen, eine geistige Bastion von Liebe und Unterstützung füreinander, mit einem hohen Turm in der Mitte, wo wir alle darin wetteifern können, anderen Liebe zu zeigen und uns in Torá und Chèssed (Wohltätigkeit) zu engagieren.
Mögen wir nicht nur den Ruf אָנֹכִי ה’ אֱ לֹהֶיךָ hören, der unseren Glauben an den einen und einzigen Gott ausdrückt, sondern auch den Ruf von לֹא תַחְמוֹד und dementsprechend eine Gemeinschaft der Liebe und Wertschätzung aufbauen.
Rabbiner Arie Folger,
Predigt zum 1. Tag Schawu‘ót 5766
(2. Juni 2006)
1Später aufgenommen in eine Semirá für Freitagabend, יוֹם שַׁבָּת קֹדֶשׁ הוּא.
2Judith Shulevitz, “Bring Back the Sabbath”, New York Times Magazine, 2. März 2003