Unsere Tradition lehrt uns, dass wir in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen besonders sensibel sein sollen, und so hat sich der Brauch entwickelt, dass wir einander vor oder an Jom Kippur um Verzeihung bitten.1 Sollen wir daraus schliessen, dass das, was dem Judentum wichtig ist, nur der zwischenmenschliche Bereich ist? Liegt das Wesen unserer Religion im Gesellschaftlichen und nur dort?
Manche behaupten das.
In der Tat ist es ein grosser Beitrag des Judentums, dass die jüdische Ethik die Grundlage für viele der Rechtssysteme in der Welt bildet. Gemäss den Lehren unserer Torá haben wir Respekt, Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Menschen betont, und obwohl wir gering an Zahl sind, interessieren sich viele für unsere ethischen Positionen.
Sollen wir also den Schluss ziehen, dass wir uns nur vornehmen müssen, nette Menschen zu sein? Dann können wir nach Hause gehen und uns auf die Schultern klopfen, weil wir unsere religiöse Pflicht erfüllt haben – und nächstes Jahr, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort sehen wir uns wieder?
Der erste der späteren Propheten (Newi’ím Acharoním), Jescha‘jáhu, hielt unseren Vorfahren im ersten Bejt ha-Mikdásch (Tempel) ihre fehlgeleiteten religiösen Bemühungen vor:
לָמָּה־לִּי רֹב־זִבְחֵיכֶם יֹאמַר ה’ שָׂבַעְתִּי עֹלוֹת אֵילִים וְחֵלֶב מְרִיאִים וְדַם פָּרִים וּכְבָשִׂים וְעַתּוּדִים לֹא חָפָצְתִּי:
Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht Haschem. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes der Mastkälber; das Blut der Stiere, Lämmer und Böcke begehre ich nicht. (Jescha’jáhu 1:11)
Nicht mangelnde Einhaltung des Schabbats oder fehlerhaften Tempeldienst bemängelt Jescha‘jáhu, sondern ethische Korruption:
שָׂרַיִךְ סוֹרְרִים וְחַבְרֵי גַּנָּבִים כֻּלּוֹ אֹהֵב שֹׁחַד וְרֹדֵף שַׁלְמֹנִים יָתוֹם לֹא יִשְׁפֹּטוּ וְרִיב אַלְמָנָה לֹא יָבוֹא אֲלֵיהֶם:
Deine Fürsten sind Widerspenstige und Diebsgesellen; alles liebt Bestechung und jagt Bezahlung nach. Der Waise schaffen sie nicht Recht, und der Witwe Sache kommt nicht vor sie. (Jescha‘jáhu 1:23)
Bedeutet das, dass für Jescha‘jáhu nur ethisches Verhalten religiöse Bedeutung hat?2
Eine genaue Lektüre der Verse zeigt rasch, wie absurd und naiv eine solche antinomische, d.h. das überlieferte Gesetz ablehnende Deutung des Textes ist. Unmittelbar nach den Worten לָמָּה־לִּי רֹב־זִבְחֵיכֶם ‘was soll mir die Menge eurer Opfer’ kommt der Prophet auf das Kernproblem:
כִּי תָבֹאוּ לֵרָאוֹת פָּנָי מִי־בִקֵּשׁ זֹאת מִיֶּדְכֶם רְמֹס חֲצֵרָי:
Wenn ihr kommt, um vor Meinem Angesicht zu erscheinen, wer hat solches von euch verlangt, Meine Höfe zu zertreten? (Jescha‘jáhu 1:12)
Weder hasst Gott Opfer noch nimmt er Seine „rituellen“ Gesetze zurück. Doch als damals unsere Vorfahren im Bejt ha-Mikdásch erschienen, bedeutete das nicht Ehre für Gott und Dienst an Ihm, sondern ein „Zertreten Seines Hofes“.
Was ist damit gemeint? In jener Zeit war es üblich, Opfer als eine Art von Bestechungsgeld zu betrachten, um die Götter auf die eigene Seite zu ziehen.3 Aber der eine und einzige Gott
[…] הוּא אֱ לֹהֵי הָאֱלֹהִים וַאֲדֹנֵי הָאֲדֹנִים הָאֵ ל הַגָּדֹל הַגִּבֹּר וְהַנּוֹרָא אֲשֶׁר לֹא־יִשָׂא פָנִים וְלֹא יִקַּח שֹׁחַד:
[…] ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der grosse, mächtige und furchtbare Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung nimmt. (Dewarím 10:17)
Was Jescha‘jáhu lehrte, war revolutionär und für die Völker der damaligen Welt undenkbar. Selbst die Kinder Israels, die so viel nichtjüdische Kultur und nichtjüdisches Gedankengut aufgenommen hatten, mussten an ihre Prinzipien erinnert werden. Jescha‘jáhu lehrte, dass man Ritual und Ethik nicht trennen kann. Rituale besänftigen Gott nicht. Wenn man Opfer oder Gebete als Besänftigung oder Bestechung Gottes versteht, dient man Gott nicht, sondern „zertritt seinen Hof“, dient Ihm, wie man es mit einem Götzen tun würde. לֹא־תַעֲשׂוּן כֵּן לַה’ אֱ לֹהֵיכֶם ‘nicht so sollt ihr ha-Schem, eurem Gott, tun’ (Dewarím 12:4).
Erst wenn man begreift, dass das Ritual einer von drei notwendigen Aspekten (dem zwischenmenschlichen, dem praktischen und dem emotional-geistigen) unserer Verpflichtung gegenüber Gott ist, ist Ritual heilsam. Ein gesunder, tugendhafter Mensch verbindet in sich Ehrlichkeit und Frömmigkeit.
Heute ist uns klar, dass Ritual alleine Korruption und Ungerechtigkeit nicht sühnen kann. Gebete und Opfer entbinden nicht von der Verantwortung für Verbrechen, Korruption und unmoralisches Verhalten. Aber auch in unserer Generation sind Jescha‘jáhus Lehren in Vergessenheit geraten. Während unsere Vorfahren die Einheit von Ethik und Ritual nicht begriffen und deshalb das Ritual als eine götzendienerische Bestechung Gottes betrachteten, machen wir den Fehler, die Ethik für alles zu halten, was das Judentum zu bieten hat. Nicht nur das: Wir verwechseln auch unsere ethischen Empfindungen „aus dem Bauch heraus“ oder die neuesten „ethischen“ Moden mit wahrer Ethik und Moral. Dadurch entfernen wir uns noch mehr von unserer so reichen Tradition.
Bei näherer Betrachtung wird sogar deutlich, dass wir nicht nur das Judentum aufgeben, wenn wir es auf die westliche Ethik reduzieren, sondern auch die Ethik. Die ethische Kraft des Judentums beruht nämlich auf seiner Unabhängigkeit. Gerade weil es sich weigert, sich in irgendein Rechtssystem (sogar eines, das auf jüdischem Recht und jüdischer Ethik beruht) einverleiben zu lassen und sich ihm zu unterwerfen, kann es die Korruption des irdischen Gesetzes kritisieren.
Betrachten wir das Thema philosophisch. Es stimmt, dass jüdische Ethik und Moral unser grosses Geschenk an die Menschheit sind. Und sicherlich ist die Welt, die wir kennen, nach Jahrhunderten und Jahrtausenden unseres passiven Einflusses auf die Gesellschaften, in denen wir leben, von Moral und Gerechtigkeit geprägt. Es gibt keine Diktatoren und Tyrannen mehr, die zu ihrem eigenen Vorteil tun können, was sie wollen – jedenfalls in der westlichen Welt. Unsere Regierungen sind demokratisch, es gibt ein System der Gewaltenteilung mit wechselseitiger Kontrolle, die Justiz ist unabhängig und meist ziemlich gerecht. Missbrauch und Korruption werden meistens verfolgt, wenn auch oft verspätet. Verträge werden im allgemeinen eingehalten oder von den Gerichten durchgesetzt. Wir leben in einer relativ gerechten Gesellschaft.
Natürlich erfüllen uns solche Errungenschaften mit Stolz, aber wie können wir allein mit Stolz als Volk überleben? Verspüren wir den Wunsch, uns in unsere Tradition zu vertiefen, wenn wir westliches Recht und westliche Ethik als unseren ganzen Auftrag verstehen und sogar meinen, dieser Auftrag sei erfüllt? Kann so ein beschränktes und verkürztes Verständnis der jüdischen Tradition uns erheben und inspirieren? Intuitiv würden wir vielleicht „ja“ sagen, denn so wird es keine guten Vorsätze für das neue Jahr geben, die Auswirkungen auf unser gewohntes assimiliertes Leben haben. Aber in unseren Herzen wissen wir, dass wir unseren spirituellen Durst so nicht löschen können.
Der Prophet Amós verkündete:
הִנֵּה יָמִים בָּאִים נְאֻם אֲ דֹנָי ה’ [אֱ לֹהִיםlies ] וְהִשְׁלַחְתִּי רָעָב בָּאָרֶץ לֹא־רָעָב לַלֶּחֶם וְלֹא־צָמָא לַמַּיִם כִּי אִם־לִשְׁמֹעַ אֵת דִּבְרֵי ה’:
Siehe, es kommen Tage, ist der Spruch meines Herrn, Gott,4 da sende Ich einen Hunger ins Land, nicht einen Hunger nach Brot und nicht Durst nach Wasser, sondern zu hören die Worte ha-Schems. (Amós 8:11)
Diesen Durst können wir heute unter uns spüren. Lasst uns gehen und Torá lernen. Unser Durst wird nicht durch Plattheiten gestillt und nicht dadurch, dass wir uns vorenthalten, wonach sich unsere Seele zutiefst sehnt. Wir sollten unsere Seele speisen und uns darüber freuen, unsere spirituelle Tiefe zu entwickeln, wie es Jescha‘jáhu prophezeit hat:
אִם תָּשִׁיב מִשַּׁבָּת רַגְלֶךָ עֲשׂוֹת חֲפָצֶיךָ בְּיוֹם קָדְשִׁי וְקָרָאתָ לַשַּׁבָּת עֹנֶג לִקְדוֹשׁ ה’ מְכֻבָּד וְכִבַּדְתּוֹ מֵעֲשׂוֹת דְּרָכֶיךָ מִמְּצוֹא חֶפְצְךָ וְדַבֵּר דָּבָר: אָז תִּתְעַנַּג עַל ה’ וְהִרְכַּבְתִּיךָ עַל בָּמֳתֵי אָרֶץ וְהַאֲכַלְתִּיךָ נַחֲלַת יַעֲקֹב אָבִיךָ כִּי פִּי ה’ דִּבֵּר:
Wenn du am Schabbat deinen Fuss zurückhältst, dass du nicht tust, was dich gelüstet an Meinem heiligen Tage; wenn du den Schabbat deine Lust nennst und den heiligen Tag ha-Schems ehrenwert; wenn du ihn ehrst, also dass du nicht deine Wege gehst und nicht dein Vergnügen suchst, noch eitle Worte redest; alsdann wirst du an ha-Schem deine Lust haben; und Ich werde dich über die Höhen des Landes führen und dich speisen mit dem Erbe deines Vaters Ja‘aków! Der Mund ha-Schems hat es verheissen. (Jescha‘jáhu 58:13-14)
Rabbiner Arie Folger,
Jom Kippúr 5768
(22. September 2007)
Fussnoten
1Allein dadurch, dass man an Jom Kippúr fastet und keine verbotene Tätigkeit (Melachá) verrichtet, erreicht man ein gewisses Minimum an Sühne. So erklärt der Rambam (Maimonides), dass der Tag selbst Sühne bewirkt: וְעִצֻמוֹ שֶׁל יוֹם הַכִּפּוּרִים מְכַפֵּר (Mischné Torá, Hilchót Teschuwá 1:3-4).
Diese heilsame Wirkung von Jom Kippúr ist allerdings begrenzt. Eine berühmte Mischná lehrt:
עֲבֵרוֹת שֶׁבֵּין אָדָם לַמָּקוֹם, יוֹם הַכִּפּוּרִים מְכַפֵּר. עֲבֵרוֹת שֶׁבֵּין אָדָם לַחֲבֵרוֹ, אֵין יוֹם הַכִּפּוּרִים מְכַפֵּר עַד שֶׁיְּרַצֶּה אֶת חֲבֵרוֹ
Sünden zwischen Mensch und Gott sühnt Jom Kippúr, aber Sünden zwischen Mensch und Mitmensch sühnt Jom Kippúr erst, wenn man den Mitmenschen [dem man Unrecht getan hat] besänftigt hat (Mischná Jomá 8:9).
2In der Vergangenheit war das ein Thema bei jenen, die einen Keil zwischen die heiligen Propheten des Volkes Israel und seine Torá treiben wollten, um die Juden von allen religiösen Pflichten zu befreien – sie sollten nur gute Bürger sein. Damit wird der Inhalt unserer heiligen Tradition ausgehöhlt, und es bleibt nur eine leblose Hülle übrig.
3So ist die Odyssee von Homer – der vermutlich im gleichen Zeitalter lebte wie Jescha‘jáhu – voll von Beschreibungen von Opfern, mit denen die Götter besänftigt werden sollten.
4Der Name Gottes, der an dieser Stelle verwendet wird, ist das (in diesem Aufsatz sonst durch ha-Schém wiedergegebene) Tetragramm, das die Ewigkeit Gottes betont. Es wird aber hier ausnahmsweise Elohím gelesen und verweist damit zugleich auf Seine Allmacht.