Der Schabbat ist unser von Gott geschenkter Ruhetag. Genau wie unsere Vorfahren, die kaum einen Monat nach ihrem Auszug aus Ägypten den Schabbat als eine ihrer ersten Mizwót bekamen (s. Schemót 16:1, 16:4-30), erholen auch wir uns an dem Tag, der zugleich זִכָּרוֹן לְמַעֲשֵׂה בְרֵאשִׁית, ein Andenken an das Schöpfungswerk, und זֵכֶר לִיצִיאַת מִצְרָיִם, ein Andenken an den Auszug aus Ägypten, ist.
Nur erholen sich Sklaven und Landwirte anders als Stadtmenschen, die bereits vor Jahrtausenden befreit wurden. Unsere Paraschá lehrt לֹא־תְבַעֲרוּ אֵשׁ בְּכֹל מֹשְׁבֹתֵיכֶם בְּיוֹם הַשַּבָּת ’ihr sollt am Schabbat-Tag in allen euren Siedlungen kein Feuer anzünden’ (Schemót 35:3). Aber das Erzeugen von Feuer war in der Vergangenheit viel aufwendiger als heute; so wie wir es machen, ist hingegen das Anschalten eines Lichtes oder eines Ofens kinderleicht. Ist die genaue Einhaltung des Schabbats unter diesen Umständen noch sinnvoll?
Bestimmt ist das Schabbat-Feiern – Gebet, Kiddúsch, die Mahlzeit mit der Familie, also die Erfüllung der Mizwá, des Schabbats zu gedenken (זָכוֹר אֶת־יוֹם הַשַּבָּת לְקַדְּשׁוֹ, Schemót 20:8) – mindestens ebenso sinnvoll wie früher. Aber wie steht es mit den Verboten, mit dem Hüten des Schabbats (שָׁמוֹר אֶת־יוֹם הַשַּבָּת לְקַדְּשׁוֹ, Dewarím 5:12)?
Seit Freizeit für alle eine Realität geworden und auch Unterhaltung breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich ist, erholen wir uns ganz anders als unsere Vorfahren. Gerade diese Unterhaltung ist jedoch oft nach den Schabbatgesetzen untersagt. Ist das zeitgemäss?
Diese Fragen kommen aus einer Perspektive, die den Schabbat als rein physischen Ruhe und Erholungstag betrachtet. Wie sahen aber unsere grossen Denker den Schabbat?
Nach dem Séfer ha-Chinnúch ist der Grund für das Verbot, Werktätigkeiten am Schabbat zu verrichten, dass wir
zur Ehre des Tages von unseren Beschäftigungen befreit sein sollen, um unseren Seelen den Glauben an die Erschaffung der Welt einzuprägen. Das ist der Strick, der alle Grundlehren der Religion mit sich zieht. […] (Mizwá 32)
Nach dem Chinnúch ist die Hauptbegründung des Schabbats nicht die physische Ruhe, sondern die Besinnung, die durch diese Zwangsruhe ermöglicht wird. Nicht das Nachmittagsschläfchen ist das Ziel des Schabbats, sondern das Torálernen und das Beten. Nicht ein Ruhetag ist der Schabbat, sondern ein Gottesdienst-Tag.
Dass der Schabbat eigentlich nicht ein Tag physischer Ruhe, sondern eher ein Tag geistiger Aktivität ist, ergibt sich aus der in der Torá gegebenen Begründung, dass der Schabbat an das Schöpfungswerk erinnern soll. Was Gott am siebten Tag tat, שָׁבַת (Bereschít 2:3), können wir aber kaum als ruhen übersetzen. Wir ruhen nach einer anstrengenden Tätigkeit, um unseren Muskeln die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Aber Gott wurde doch nicht von der Schöpfungstätigkeit müde, da er ja keinen Körper hat! Worin bestand also die göttliche Ruhe? Mit שָׁבַת ist nicht physische Ruhe, sondern die Einstellung der schöpferischen Tätigkeiten gemeint. Sechs Tage schuf Gott das All mit seiner wunderschönen Welt, die wir bewohnen. Aber anstatt die Welt perfekt zu machen, stellte Er seine Tätigkeit ein und gab den Menschen die Gelegenheit, das Schöpfungswerk zu vervollkommnen.
Auch wir ruhen uns am Schabbat nicht einfach aus, sondern stellen unsere schöpferischen Tätigkeiten – die 39 Kategorien von Werktätigkeit – ein. Gott stellte Seine Schöpfungstätigkeit ein, damit dem Menschen Raum bleibt, die Schöpfung zu vervollkommnen,1 und wir stellen unsere schöpferischen Tätigkeiten am Schabbat ein, damit wir in uns Raum für Gott und Seine Torá machen.
Nach einem Midrásch bezieht sich sogar der Aspekt des Schabbats, ein Andenken an den Auszug aus Ägypten zu sein, eigentlich auf die Möglichkeit, sich in Geistiges zu vertiefen. Nach der ersten Begegnung Moschès mit Par‘ó verordnete Par‘ó:
תִּכְבַּד הָעֲבֹדָה עַל־הָאֲנָשִׁים וְיַעֲשׂוּ־בָהּ וְאַל־יִשְׁעוּ בְּדִבְרֵי־שָׁקֶר:
Schwer soll der Dienst auf den Männern lasten, dass sie damit zu schaffen haben und nicht achten auf Worte des Trugs. (Schemót 5:9)
Was Par‘ó als „Worte des Trugs“ bezeichnete, waren nichts anderes als Schriften, die sie von ihren Vorfahren mitbekommen hatten und die anscheinend auch die Prophezeiung Ja‘akóws und Josséfs beinhalteten, dass sie einst aus Ägypten befreit würden (nach Bereschít 48:21 und 50:24). Diese Texte lasen sie wöchentlich – am Schabbat!2
Nach einem anderen Midrásch verlangt die erste Mizwá unseres Wochenabschnitts (Schemót 35:1-2), dass Moschè wöchentlich, am Schabbat, das Volk Torá lehren soll.
Der Heilige, gepriesen sei Er, sagte [zu Moschè]: Mache dir grosse Versammlungen und lehre das Publikum die Gesetze des Schabbats, damit die zukünftigen Geschlechter von dir lernen sollen, wöchentlich am Schabbat die Gemeinden in den Batéj Midraschót (Lehrhäusern) zu versammeln, um Torá zu lernen, damit mein grosser Name von meinen Kindern gelobt wird. (Jalkút Schim‘oní §408 zu Schemót Kap. 35)
Nachdem deutlich geworden ist, dass der Schabbat uns von den üblichen Tätigkeiten befreien soll, damit wir uns hauptsächlich dem Gottesdienst und damit der inneren geistigen Erfüllung widmen können, wird klar, wie zeitgemäss die Schabbatverbote eigentlich sind. Auch die Juden vergangener Epochen, deren schwere körperliche Arbeit immerhin zeitlich von der Nicht-Arbeit deutlich abgegrenzt war, brauchten den Schabbat mit seinen Einschränkungen, um einen Tag in der Woche freie Herren und Fürsten zu sein, die sich in Geistiges vertiefen. Umso wichtiger sind die Einschränkungen des Schabbats für uns, weil wir dank den modernen Kommunikationsmitteln Gefahr laufen, nie einen wirklich ruhigen Moment zu haben.
Wer hat Zeit, am Tisch mit seiner Familie Worte der Torá zu sprechen und Semirót zu singen, wenn dauernd Telefon und Handy klingeln, SMS-Berichte ankommen und beantwortet werden wollen? Wer kann ruhig sitzen bleiben, wenn er das Gefühl hat, er müsse noch seine E Mails lesen – und wenn das nächste Fernsehprogramm in einer Viertelstunde anfängt? Und sind der Kinosaal, der Freizeitpark oder sonstige Erholungsorte etwa für tiefe geistige Besinnung und Lehre mehr geeignet?
Der Schabbat ist wahrhaftig relevanter denn je. Mögen wir uns entscheiden, aus unserem Ruhetag den Tag der geistigen Erfüllung zu machen, זִכָּרוֹן לְמַעֲשֵׂה בְרֵאשִׁית und זֵכֶר לִיצִיאַת מִצְרָיִם.
Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Paraschát Wajakhél,
24. Adár I 5768 (1. März 2008)
1Siehe Midrásch Tanchumá Wajikrá, Paraschát Tasría‘, wo Rabbi ‘Akíwa behauptet, die Taten des Menschen (Brot und Gebäck, Kleider, usw.) seien prächtiger als die Gottes (Getreide, Flachs)!
2Vgl. Midrásch Tanchumá z.St., Jalkút Schim‘oní §176 zu Schemót Kap. 5