Die grösse des Sündenbekenntnis

Deutsch

אוֹר זָרוּעַ לַצַדִיק וּלְיִשְׁרֵי לֵב שִׂמְחָה
Licht ist gesät für den Gerechten,
und für die, die geraden Herzen sind, Freude.
(Tehillím 97:11)

Der Beginn von Jom Kippúr ist ein sehr ehrfurchtgebietender und ernster Moment. Jetzt wollen wir ein Paradox untersuchen: Jom Kippúr existiert, weil wir an den Menschen glauben. Wir glauben, dass der Mensch gerecht sein soll, und wir glauben, dass der Mensch gerecht sein kann.

Würden wir (wie manche anderen Religionen) an die Prädestination, die Vorherbestimmung glauben, dann hätten wir keinen Jom Kippúr, dann würden wir nicht an das menschliche Potential glauben. Es gäbe keinen Anlass, unsere Sünden zu bereuen, es gäbe keinen Grund, göttliche Verzeihung zu erwirken. Wir dagegen glauben an die Willensfreiheit, an die freie Wahl, und zugleich an die Verantwortung, die richtige Wahl zu treffen.

Wir glauben an den Menschen. Aber: Wir nähern uns Jom Kippúr und wissen, dass wir sündig sind. Der gleiche Mensch, von dem wir glauben, dass er fähig ist, gerecht zu sein, von ihm sagen wir hier, dass er angeboren sündig ist. Ich zitiere aus dem Machsór:

כִּי אָדָם אֵין צַדִיק בָּאָרֶץ אַשֶׁר יַעַשֶׂה טוֹב וְלֹא יֶחֶטָא:

Denn es gibt keinen gerechten Menschen auf der Erde, der das Gute tut und nicht sündigt. (Kohèlet 7:20)

אֶמֶת כִּי אַתָּה הוּא יוֹצְרָם וְאַתָּה יוֹדֵעַ יִצְרָם כִּי הֵם בָּשָׂר וָדָם אָדָם יְסוֹדוֹ מֵעָפָר וְסוֹפוֹ לֶעָפָר.

Wahrhaftig, Du bist ihr Schöpfer und Du kennst ihren Trieb, denn sie sind aus Fleisch und Blut. Der Anfang des Menschen ist Staub und sein Ende ist Staub. (Untannè Tókef in der Wiederholung von Mussáf)

Auf diesen Gedanken basierend, beten wir um Verzeihung, und wir sind sicher, dass der Allerheiligste selbst, wenn wir uns Ihm nähern und um Verzeihung bitten, unser Leben verlängern und uns eine neue Chance geben wird.

Von uns Menschen wird nicht erwartet, dass wir perfekt sind. Wir wissen, dass der Ewige den Menschen unvollkommen geschaffen und ihn in eine unvollkommene Welt gesetzt hat, damit der Mensch sich selbst und die Welt um ihn herum vervollkommnen möge. So akzeptieren wir, dass der Mensch eine angeborene Schwäche hat und oft Sünden begeht. Doch ist Gott bereit zu verzeihen. Zugleich bezeugen wir, dass der Mensch die erhabensten Höhen menschlicher Grösse erreichen kann.

Wie drücken wir aber unseren Glauben an die Grösse des Menschen aus? Ein Gebet sticht aus allen anderen Gebeten an Jom Kippúr besonders hervor. Es wird immer wieder und wieder rezitiert: das Widdúj (Sündenbekenntnis). Die zwei herausragenden Elemente des Widdúj sind Aschámnu und ‘Al Chet. Beides sind Auflistungen von Sünden nach der Anordnung des Alef-Bet, eines ist länger und umfassender als das andere.

Drücken wir unseren Glauben an den Menschen aus, indem wir eine lange Liste von Sünden, derer er verdächtigt wird, aufzählen? Sind wir uns nicht genügend bewusst, wie zerbrechlich der Mensch ist?

Die Halachá betont, dass es nicht reicht, die Listen nur mit den Augen zu lesen. Nein, wir müssen die Worte mit Nachdruck aussprechen. Sind wir so schlecht, dass wir nicht ruhig über diese Listen nach­denken können? Im Gegenteil! Das Rezitieren dieser Sündenlisten soll nicht etwa dazu führen, dass wir uns wertlos und hoffnungslos fühlen. Es macht uns aber auf die Hauptsünde aufmerksam, die die Gesellschaft, in der wir leben, besonders oft begeht: die Unfähigkeit, Betroffenheit wirklich zu spüren.

R’ Jonathan Sacks, der Oberrabbiner des Britischen Commonwealth, schreibt in seinem grundlegenden Buch The Dignity of Difference:

Die Vorherrschaft des Marktes hat nicht nur eine zerstörende Wirkung auf unsere soziale Landschaft gehabt. Sie hat auch unser moralisches Vokabular – wohl unsere wichtigste Ressource beim Nachdenken über die Zukunft – ausgehöhlt. (The Dignity of Difference: How to Avoid the Clash of Civilizations, London, New York: Continuum 2002, S. 32)

R’ Sacks zitiert Alasdair MacIntyre, einen der einflussreichsten nichtjüdischen Philosophen der Gegenwart, der in seinem 1981 erschienenen Buch After Virtue schreibt:

Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiterhin viele ihrer Schlüsselbegriffe. Aber wir haben zu einem grossen Teil, wenn nicht sogar völlig, unser Verständnis, theoretisch wie praktisch, oder unsere Moral verloren. (Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, New York: Campus 2006, S. 15)

R’ Sacks schreibt weiter:

Der Begriff der Ethik selbst […] ist inkohärent geworden. Wir sind zunehmend dazu übergegangen, über Effizienz (wie man bekommt, was man will) und Therapie (wie man erreichen kann, dass man wegen seiner Wünsche kein schlechtes Gewissen hat) zu sprechen. Beide haben gemeinsam, dass sie mehr mit der Mentalität des Marktes (Anregung und Befriedigung von Wünschen) als mit Moral (was wir uns wünschen sollten) zu tun haben. (The Dignity of Difference, S. 32)

Das ist es, was wir von Aschámnu und ‘Al Chet lernen. Wir müssen die Worte dieser beiden Gebete aussprechen, damit wir wieder lernen zu verstehen, dass all diese Taten Sünden sind. Wir können wieder dafür empfänglich werden, die zerstörerische Natur der Sünde zu erkennen.

Wir sind unvollkommen und sündig, aber niemand erwartet von uns, vollkommen zu sein. Das besagen die eingangs zitierten Verse. Trotzdem wird von uns erwartet, dass wir unser moralisches und ethisches Vokabular nicht verlieren. Von uns wird erwartet, dass wir so offen sind im Denken, dass wir lernen können, uns zu entwickeln. Der Weg, den wir gehen sollten, ist weder unmöglich noch zu schwierig. In Wahrheit ist er äusserst spannend. Er ist für jeden unter uns erreichbar und verlangt von uns nicht, dass wir unseren Lebens­stil plötzlich und radikal ändern. Dennoch ist das nur möglich, wenn wir uns unserer Menschlichkeit und unseren Fähigkeiten mit dieser erforderlichen geistigen Offenheit nähern.

Möge Gott uns helfen, dieser Herausforderung gerecht zu werden, denn dann werden wir auch bereit sein, die Grösse des Menschen zu erforschen.

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Kol Nidréj,
Jom Kippúr 5764 (5. Oktober 2003)

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