Die Spitze des Eisbergs von Sin’át chinnám

Deutsch

Die Ermordung von Yitzhak Rabin

Zum 10. Jaherstag seiner Ermordung

Vor zehn Jahren, am Vorabend des 12. Marcheschwán, stand Premierminister Yitzhak Rabin auf einer Tribüne auf dem Kikkár Malchéj Jissra’él und hielt eine Rede, in der er für Frieden mit den palästinensischen Arabern eintrat und sagte: „Gewalt höhlt die Basis der israelischen Demokratie aus. Man muss sie verurteilen und ausgrenzen. Gewalt ist nicht der Weg des Staates Israel. In einer Demokratie kann es Meinungsunterschiede geben, aber die Entscheidung fällt letztlich in demokratischen Wahlen […]“. Diejenigen, die er als Partner im Friedensprozess sah, unterstützte der Premierminister mit den Worten: „Ich möchte es ganz direkt sagen, dass wir auch unter den Palästinensern einen Partner für den Frieden gefunden haben: die PLO, die unser Feind war, und aufgehört hat, Terrorismus zu betreiben. Ohne Partner für den Frieden kann es keinen Frieden geben […]“.

Die nächsten zehn Jahre, von den Ereignissen jener Nacht an, waren durch innere Suche, Hoffnungen und Enttäuschungen gekenn­zeichnet. Im Rückblick leben wir jetzt in einer Welt, die wir damals nicht wollten. Fünf Jahre Intifada haben viele daran zweifeln lassen, dass die Bemerkungen des Premierministers über die Absichten der PLO zutreffend waren. Zehn Jahre nach jener Rede, nach den vielen Tunneln zum Zweck des Waffenschmuggels, nach der Manipulation von Journalisten, nach dem Schiff „Karin B“ voller (für die Palästinenser bestimmter) illegaler Waffen und dergleichen mehr, wäre es sehr leicht, zu leicht, den Blick auf das Unbeschreibliche zu richten und zu behaupten, dass der Premierminister und seine Partei sich vielleicht geirrt hatten.

Ich meine allerdings, dass wir die grössere, belastende Bedeutung des Mordes an Yitzhak Rabin nicht erfassen, wenn wir uns entweder auf den Mangel an prophetischen Gaben irgendwelcher Leute, einschliesslich der sogenannten Visionäre der Arbeitspartei, konzentrieren oder auf jenen einzigartigen Gewaltakt, den Mord an dem gewählten Premierminister Israels.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich von dem Mord erfuhr. Ich war kurz zuvor in die Vereinigten Staaten übersiedelt, nachdem ich drei Jahre lang auf der Mirer Jeschiwá in Jerusalem gelernt hatte. Für Moza’éj Schabbát war in Tel Aviv eine Friedensdemonstration angesetzt worden, und während es in Israel schon Nacht war, als Yitzhak Rabin ermordet wurde, war es in New York noch Schabbat. Wir hörten durch die Gerüchteküche von dem Mord, wussten aber keine Einzelheiten. Wir hatten keine Informationen, um das Ausmass des Horrors erfassen zu können. Wir kannten die Stellungnahmen der Experten nicht, die bald danach ernsthafte Fragen aufwarfen – zu den Ereignissen, die zum Mord an Rabin führten, und zu den letzten Augenblicken seines Lebens. Uns fehlte das Wissen, das uns zu rationalen Analysen befähigt hätte, und so mussten wir spekulieren und versuchen, das zu verstehen, was wir wussten. Es ist unaus­weichlich, dass man in solchen Momenten an die Vergangenheit denkt. Für mich war es vor allem die unmittelbare Vergangenheit. So gingen mir an jenem Schabbat meine Erfahrungen mit verschiedenen Gruppen von Israelis durch den Kopf, und ich versuchte zu verstehen, wie so etwas Schreckliches möglich sein konnte.

In den Monaten und Jahren vor der Ermordung Yitzhak Rabins, während meiner Jeschiwá-Zeit in Jerusalem, lernte ich auch die israelische Gesellschaft kennen. Es fielen mir die zahlreichen Unterschiede zwischen der israelischen Gesellschaft und den mir bekannten europäischen Kulturen auf. Das Schreien und die verbalen Angriffe in Sitzungen der Knesset waren nicht aussergewöhnlich. Auch das englische Parlament ist höchst unterhaltend. In Israel ging es allerdings um Themen, die sich oft so auf das Überleben der Menschen auswirken, wie wir uns das in Europa gar nicht vorstellen können. Die Spontaneität, mit der man in Israel Freundschaften schliesst, unterscheidet sich sehr von unseren kühleren Gewohnheiten in Europa, aber sie ist ein willkommener Aspekt des realen Einflusses, den das Judentum auf die israelische Gesellschaft hat: Dort sind wir sofort zu Hause, unter Brüdern und Schwestern. Der niedrigere Lebensstandard in Israel ist unverkennbar, aber er wird durch das ausgeglichen, was in den wenigen Jahrzehnten seit der Gründung des modernen Jischúw erreicht worden ist. Die ständige Kluft zwischen religiös und säkular und die Streitigkeiten innerhalb der diversen Sektoren der Gesellschaft machten mich sehr traurig. Schlimmer war aber, was ich kaum noch verstehen konnte. Was mir vor allem auffiel, war der Mangel an Respekt füreinander, die Weigerung, den anderen reden zu lassen, die Weigerung zuzuhören, wenn man anderer Meinung ist, die Weigerung, den anderen verstehen zu wollen, einfach um ihn zu verstehen. Dieser Mangel an Respekt ging nicht von einer oder zwei Gruppen aus und hing nicht mit religiöser Ausrichtung zusammen. Er war überall in der israelischen Gesellschaft zu finden, insbesondere in der Politik. Der Mord an Rabin war nicht die grosse Tragödie, die unser Volk getroffen hat, sondern der sichtbarste und kriminellste Ausdruck eines Missstandes, der leider sehr tief geht. Das ist die grosse Tragödie. Manchmal verteufeln wir einander so sehr, dass es zu Blutvergiessen führen könnte, und das ist eine noch grössere Tragödie. Der Mord an Rabin war die sichtbare Spitze eines Eisbergs von Sin’át chinnám, von grundlosem Hass, und wir dürfen nicht noch einmal an den Eisberg stossen, damit wir nicht noch ein grosses Schiff versenken.

Solange Rabin am Leben war, wussten wir, dass irgendwann in der Zukunft, nach 120, Historiker, Politiker und Laien seine Vision, sein Handeln und seine Meinungen diskutieren würden, die Risiken, die er einging, und die Sicherheiten, die er verlangte, wenn er sich auf ein Risiko einliess. Wir wussten, dass sein Erbe in seiner militärischen und politischen Karriere bestehen würde und dass wir in der Zukunft darüber debattieren würden, ob seine Entscheidungen richtig gewesen waren oder nicht.

Mit der Ermordung des Premierministers verwandelte sich jedoch seine Existenz. Auch im Tod fordert er uns weiter heraus. Yitzhak Rabin ruft uns mit den Worten von Hèwel zu: קוֹל דְּמֵי אָחִיךָ צֹעַקִים אֵלֶיך מִן הָאַדָמָה ‘Horch! Das Blut deines Bruders schreit zu Mir auf vom Erdboden’ (Bereschít 4:10). Zwischen der Ermordung Hèwels durch Kájin und der Ermordung von Premierminister Rabin gibt es freilich mehr Parallelen als nur eine poetische.

Die Geschichte vom ersten Brudermord ist komplex und kann aus vielen verschiedenen Perspektiven analysiert werden. Kájin und Hèwel unterschieden sich in sozialer und in religiöser Hinsicht. Es gab zwischen ihnen zugleich Neid, Überlegenheits‑ und Minderwertigkeitsgefühle. Das alles gipfelte im Mord und in seiner Ableugnung. Der Bericht der Torá über diese Ereignisse ist wie üblich kurz; wir können über viele Einzelheiten nur spekulieren und wünschen uns tiefere Analysen. Man könnte allerdings versucht sein, die Geschichte zu vereinfachen und Hèwel mit reiner Güte und Geistigkeit gleichzusetzen, Kájin dagegen mit Neid und reiner Bosheit.

R’ Naftalí Zwi Jehudá Berlin (Neziw), analysiert die Geschichte in seinem Kommentar Ha‘amék Dawár mit einem bemerkenswerten Blick für Details und widerlegt die einfache Gleichsetzung von Kájin mit dem Bösen und von Hèwel mit dem Guten. In seiner Interpretation erscheinen sowohl Kájin als auch Hèwel als komplexe Persönlichkeiten mit verschiedenen Lebenseinstellungen, die zu religiösen Differenzen führen. In sozialer Hinsicht entwickelt sich zwischen ihnen ein behutsames Gleichgewicht, das ins Wanken gerät, als Gott das Opfer Hèwels bevorzugt. Hier zeigt sich, wie gut der Neziw menschliche Beziehungen versteht: Er räumt ein, dass es einen Unterschied gab zwischen der tatsächlichen, ontologischen Bedeutung der Tatsache, dass Gott Hèwels Opfer im Gegensatz zu dem Kájins annahm, und Kájins Deutung dieses Ereignisses. Durch diesen einen Vorfall geht Kájins Welt in die Brüche, er wird verwirrt, entwickelt zugleich Wut und Wahn und fühlt sich Hèwel unterlegen. Erst als Hèwel aus der Welt verschwindet, findet Kájin seine Selbst­beherrschung wieder, die er dann zu bewahren versucht, als Gott ihn fragt: אֵי הֶבֶל אָחִיךָ ‘wo ist Hèwel, dein Bruder?’ (Bereschit 4:9).

Es gibt hier tatsächlich eine Parallele zur modernen Politik. Es mag uns scheinen, dass unsere ganze Existenz von der Entscheidung X oder Y abhängt, und wenn die Mehrheit oder die herrschende Elite anders entscheidet, können wir das Gefühl haben, dass wir entweder Unrecht haben oder bedroht sind. Dabei kann die Angelegenheit in Wirklichkeit von relativ geringer Bedeutung sein.

Übertragen wir das auf die Situation in Israel. Zweifellos haben die Entscheidungen der politischen Mächte in Israel eine Auswirkung auf das Leben – oder den Tod – der Bewohner des Heiligen Landes. Aber wir können uns keine demokratischen Entscheidungen vorstellen, die so falsch sind, dass es keinen Dialog und keinen Respekt für den anderen geben sollte. Im Gegenteil. Viele der schlimmen Erfahrungen unseres Volkes haben mit Sin’át chinnám, grundlosem Hass zu tun. Es geht dabei nicht nur darum, ob man hassen soll oder nicht, oder auch nur, ob man zustimmen oder widersprechen, sich verbünden oder sich distanzieren soll. Es geht auch darum, Mass zu halten. Wäre Kájin ruhiger gewesen, hätte er sich fragen können, ob denn wirklich sein ganzes Weltbild zusammengebrochen war oder ob er es nur etwas modifizieren musste.

Die Geschichte von Kájin und Hèwel handelt also auch davon, wie man aufeinander hören und mit einander widersprechenden Welt­bildern leben soll. So wie es der Neziw darstellt, haben uns beide, Kájin und Hèwel, ein geistiges Erbe hinterlassen und in gewissem Sinn hatten beide recht. Dass Kájin später Hèwel ermordete, hat freilich seinen philosophisch-religiösen Beitrag zum Welterbe überschattet.

Heute, zehn Jahre nach der Ermordung von Yitzhak Rabin, haben wir immer noch nicht gelernt, einander zu respektieren, wir haben immer noch nicht gelernt, zuzuhören mit dem einzigen Ziel, einander zu verstehen. Gegenseitiges Verständnis scheint uns ein zu niedriges Ziel zu sein, als dass wir uns damit abgeben sollten. In Wirklichkeit ist aber Verständnis der Schlüssel zu einer respektvollen Meinungs­verschiedenheit.

Es ist Zeit, Yitzhak Rabin durch Friedfertigkeit unter uns Juden zu ehren und laut, für alle hörbar zu erklären: ‘Am Jissra’él chaj, wir leben und wir leben zusammen!

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Paraschát Bereschít,
26. Tischréj 5766 (29. Oktober 2005),
am 10. Jahrestag des tragischen Todes
von Yitzhak Rabin

2 Responses to Die Spitze des Eisbergs von Sin’át chinnám

  1. Pierre Martin says:

    Not only between Jews — but between humans of any cultural, religious and social background — this sermon should be practiced every day: Let us all begion TODAY!

  2. […] Für weitere Vertiefung empfehle ich den Kommentar des Neziws (Haamek Dawar), oder meinen Aufsatz zum 10. Jahrestag der Ermordung Jitzchak Rabins (es sind mittlerweile noch zehn Jahre vorbei), in dem ich den Neziw zu diesem Thema zittiere: Die Spitze des Eisbergs von Sin’át chinnám […]

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