An Rosch ha-Schaná 5766, wussten wir noch nicht, was für ein schreckliches Dekret über das Volk Israel verhängt werden würde. Wir ahnten nicht, dass zehn Monate später während des zweiten Libanonkrieges 3970 Raketen auf den Norden Israels niederregnen und 43 israelische Zivilisten sowie 119 Soldaten töten würden.1 Wir ahnten auch nicht, dass im Laufe des Jahres unzählige Qassam-Raketen fallen und unsere Brüder im Süden in Schrecken versetzen würden.
Die jüdische Antwort auf Tragödien lautet, dass es nötig ist, in sich zu gehen, Selbstkritik zu üben und die Loyalität gegenüber unserem jüdischen Volk, unserer Tradition und Awínu sche-ba-Schammájim, unserem himmlischen Vater, zu stärken. Ich werde darauf gleich zu sprechen kommen, aber zuallererst möchte ich laut und klar sagen, so dass es alle hören: מִי כְּעַמְּךָ יִשְׂרָאֵל ‘wer ist wie Dein Volk Israel’2 – denn es ist dies eine Zeit, mit Stolz jüdisch zu sein.
Während der Feindseligkeiten im letzten Sommer, als Hunderttausende von Israelis sich in Bunkern versteckten und Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Norden in die ruhigere Mitte Israels flohen, wurden die politischen Differenzen und die Spaltung zwischen säkular und religiös in den Hintergrund gedrängt. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen:3
- Meir Panim und Hazon Yeshaya, Suppenküchen in Jerusalem, vervielfachten ihre Kapazität, um Hunderte von Flüchtlingen aller Couleur zu ernähren und schickten täglich Tausende von Mahlzeiten nach Haifa, Tiberias, Zefát und in andere betroffene Orte. Ausserdem wurden Tausende von Nahrungsmittelpaketen für Kinder und Babys in die betroffenen Orte im Norden geschickt.
- Die Leitung der Bildungseinrichtungen Migdal Ohr, die sich insbesondere an russische Juden wenden, führte Sommerlager durch und hatte am Ende des Konflikts an 40(!) Orten rund 10’000 Flüchtlingskindern und deren Familien kostenlos Unterkunft, Verpflegung und tägliche Aktivitäten geboten.
- Zahlreiche Schulen und Kibbutzim wurden in Flüchtlingsheime umgewandelt und nahmen Tausende auf. Besonders bewegend ist, dass viele jüdische Familien in ihre manchmal beengten Wohnungen Fremde aufnahmen, die sehr anders sein konnten als ihre Gastgeber.
Da kann man wirklich sagen: wer ist wie Dein Volk Israel! Sogar das politische Klima und die gegenseitige Wahrnehmung von Juden veränderten sich. Wo man sonst oft Beschuldigungen und verächtliche Bemerkungen hören konnte, entstanden plötzlich Liebe und Wertschätzung. Plötzlich lernten die Teilnehmer am öffentlichen Diskurs, dass jemand mit einer anderen Meinung nicht nur ein Gegner ist, sondern vor allem ein Bruder oder eine Schwester.
Rejsch Lakísch, einer der Weisen des Talmúds, erklärt durch den Vergleich mit dem Weinstock, dass alle Juden Teil eines Ökosystems sind:
Dieses Volk [Israel] ist wie ein Weinstock. Seine Ranken sind die Hausherren, seine Trauben die Torágelehrten, seine Blätter das ungebildete Volk und seine Äste diejenigen in Israel, die keine Verdienste haben. Und das ist die Bedeutung der Botschaft, die aus Israel geschickt wurde: Mögen die Trauben für die Blätter beten, denn wenn es die Blätter nicht gäbe, würden die Trauben nicht überleben. (Talmúd Bawlí Chullín 92a)
Die Botschaft ist klar: Das jüdische Volk, das durch den Weinstock versinnbildlicht wird, kann nur durch die Einheit des ganzen Volkes überleben. Das wird an einer anderen Stelle im Talmúd noch nachdrücklicher gesagt: „Jeder Fasttag, an dem nicht auch die Sünder in Israel unter den Fastenden sind, ist kein Fasttag“ (Talmúd Bawlí Keritút 6a). Man darf also die Hände ausstrecken und allen verkünden, dass jeder Jude eingeladen ist, in unsere Synagoge zu kommen und zu beten.
Wir sind stolz darauf, eine Einheitsgemeinde zu sein. Aber damit dieser Begriff der Einheit sinnvoll ist, darf er nicht auf Gemeindemitglieder beschränkt werden. Wir sind nicht eine geschlossene Geheimgesellschaft. Unser Gefühl für jüdische Einheit muss Juden in aller Welt einschliessen, und das tut es sicherlich auch. Einheit und die Bereitschaft, andere einzuschliessen, verlangen, dass wir Brücken bauen und diejenigen suchen, die sich unerwünscht, nicht willkommen oder nicht wertgeschätzt fühlen, dass wir uns auf sie zu bewegen und ihnen sagen: „wir mögen dich, wir haben dich gern, du bist hier willkommen“.
Aber wir haben die natürliche menschliche Neigung, uns mit denen zusammenzutun, die eher wie wir sind. Sind wir da wirklich offen und heissen jeden Juden willkommen? Machen wir folgendes Gedankenexperiment. Denken wir an Juden, die anders sind als wir und die wir willkommen heissen könnten und sollten. Denken Sie gut nach. Und nun überlegen Sie, an welche Art von Juden Sie gedacht haben, und schliessen Sie sie in Gedanken in Ihren Freundeskreis, in unsere Gemeinde ein. Und jetzt denken Sie noch einmal nach. Gibt es vielleicht irgendeine Sorte von Juden, die in Basel leben, aber in Ihrem imaginären Kreis von Freunden und Bekannten unterrepräsentiert sind? Sie sehen nicht, worauf ich hinaus will? Warten Sie noch ein bisschen …
Als der Talmúd von der Notwendigkeit sprach, für die „Blätter“, also das ungebildete Volk, zu beten, wandte er sich an die Leser des Talmúds, die Torágelehrten und schüler, jung und alt. Sie sollen sich denen zuwenden, bei denen sie einen Mangel an Toráwissen und Einhaltung der Gebote sehen. Der Talmúd möchte eine Brücke zu Juden bauen, die anders sind als seine mutmasslichen Leser. Aber wir könnten und sollten die Aussage des Talmúds auf andere Menschen und andere Umstände übertragen – und auch auf uns.
Folglich bieten sich nicht nur Möglichkeiten, Brücken zu denen zu bauen, die die Mizwót weniger halten als wir, sondern auch zu denen, die sie mehr halten. Der Brückenbau braucht sich auch nicht auf das religiöse Spektrum zu beschränken, sondern wir können ihn auch ausweiten auf Menschen, die reicher oder ärmer sind als wir und auf Menschen mit verschiedenen kulturellen Ausrichtungen und von unterschiedlicher Herkunft.
Kommen wir noch einmal auf unser Gedankenexperiment zurück. Vermutlich waren die Menschen, auf die wir zugehen wollten, uns ziemlich ähnlich und nicht sehr anders. Wahrscheinlich haben wir daran gedacht, jene mehr in unseren Kreis einzubeziehen, die der jüdischen Gemeinde ferner stehen als wir. Es ist wichtig, sehr wichtig, in diesem Sinn auf Menschen zuzugehen und sie einzuschliessen. Ohne die Bereitschaft, für Menschen zu unserer „Linken“ offen zu sein, könnten wir nicht mit Recht behaupten, Jom Kippúr zu begehen, denn wir haben ja gesehen, dass es an Fasttagen besonders wichtig ist, andere einzubeziehen.
Unsere Offenheit, unsere Definition von Einheit darf nicht einseitig sein. Ich zitiere den modern-orthodoxen, zionistischen Kanzler der Yeshiva University, R’ Dr. Norman Lamm: „Ich würde es sehr bedauern, wenn es nicht die Satmarer Chassidim zu meiner [religiösen] Rechten gäbe“. Der Weinstock Israel braucht alle seine Bestandteile und wird nicht ohne sie überleben. Wir dürfen die Einheit nicht ausschliesslich nach „links“ definieren. Zuletzt dürfen wir auch uns selbst nicht ausschliessen und sollen uns deshalb in die Einheit einbeziehen.
הַיּוֹם הֲרַת עוֹלָם ‘heute ist der Tag der Erschaffung der Welt’, הָיּוֹם יַעֲמִיד בַּמִּשְׁפָּט כָּל יְצוּרֵי עוֹלָמִים ‘heute stehen alle Geschöpfe aller Welten vor Gericht’.4 Vor dem himmlischen Gericht werden unseren Seelen Fragen gestellt wie: „Was tust du, um die jüdische Einheit zu stärken? Schätzt du die Vielfalt der Hintergründe, die Juden haben? Hast du Brücken zu den Juden um dich herum gebaut? Hast du die Menschlichkeit verschiedener Arten von Juden entdeckt, bist du ihnen allen begegnet? Hast du versucht, ein Gespräch anzuknüpfen, sie zu deinen Freunden zu machen?“
Mögen wir die ehrliche Selbstkritik, die in den Ermahnungen des Talmúds steckt, für unsere jeweilige Umgebung umsetzen und anwenden, auf unserer jeweiligen „Rechten“ und „Linken“, damit wir eine wirkliche Einheitsgemeinde werden.
Schliessen wir diese Gedanken mit einem anderen Vergleich ab, diesmal aus dem Talmúd Jeruschalmí. Die Torá befiehlt uns:
Du sollst dich nicht an den Kindern deines Volkes rächen und ihnen nichts nachtragen; du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Wajikrá 19:18)
Es gibt offensichtlich eine Beziehung zwischen den drei Mizwót in diesem Vers. Um einen bekannten, aber nicht immer richtigen Spruch abzuwandeln: „übe Liebe, führe keine [persönlichen] Kriege“. Darin, dass die Verbote, sich zu rächen oder anderen etwas nachzutragen, neben dem Gebot stehen, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, sieht der Talmúd Jeruschalmí aber eine tiefgründige Aussage über die Einheit von Kelál Jissra’él:
Es steht geschrieben: „Du sollst dich nicht an den Kindern deines Volkes rächen und ihnen nichts nachtragen.“ [Natürlich sollten wir das nicht, denn] was sonst könnte man tun?! Wenn jemand Fleisch schneidet und das Messer in seine Hand eindringt, soll er sich auch in die andere Hand schneiden [mit der er das Messer gehalten hat, als er sich verletzte]? (Talmúd Jeruschalmí Nedarím 30a/9:4)
Das Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, impliziert also, dass wir nicht einfach einzelne unverbundene Wesen sind, sondern der kunstvoll gewebte Teppich von Organen und Zellen und Gliedmassen eines grossen Körpers namens Volk Israel. Können wir uns vorstellen, in ein Fitnesszentrum zu gehen, wo man uns begrüsst und sagt: „Sie sind hier herzlich willkommen. Wir werden Ihnen jede Gelegenheit geben, Ihren Körper in Form zu bringen, aber würden Sie bitte Ihre Ellbogen durch dieses Loch stecken und aus dem Gebäude heraushalten, weil wir hier keine Ellbogen haben wollen“? Oder würden wir zu einem Fusspfleger gehen, der uns bittet, den Kopf zur Tür hinauszustrecken, weil in seiner Praxis nur Füsse willkommen sind? Wenn nein, ist es dann denkbar, dass nur bestimmte Juden zu unserer Einheit gehören, aber andere nicht?
Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu ‘Èrew Rosch ha-Schaná 5767
(22. September 2006)
1Nach Angaben des Israelischen Aussenministeriums
2Vgl. Diwréj ha-Jamím I 17:21 und ähnlich Schemu’él II 7:23
3Aus Berichten der Jerusalem Post und anderer Medien
4Aus dem Mussáf-Gebet an Rosch ha-Schaná (nach dem Schofár-Blasen)