„Besser, Zuversicht in G”tt zu haben, als auf den Menschen zu vertrauen“ (aus dem Hallel)
Predigt zum Abschnitt Chajé Sará,
vom 24. Cheschwan 5766 (26. November 2005)
Rabbiner Arie Folger
Unser Vorvater Awrahám war ein besonderer Mann von grosser geistiger Gestalt. Von den zwanzig Generationen von Adam bis Awrahám werden nur die Geschichten von Nóach, der zehnten Generation, und Awrahám, der zwanzigsten Generation, ausführlich erzählt, denn diese waren keine einfachen Persönlichkeiten. (Mischná Awót 5:2) Awrahám war der grosse Denker, das geistige Oberhaupt der Menschheit (Berejschít 14:19 & 17:5), der der Welt das Verständnis, dass es nur einen G“tt gibt und dass Er sich auch für unsere Handlungen interessiert.1 Die Ereignisse seines Lebens und seine Dialoge mit G“tt sind deutlich voller Bedeutung und zeugen von Voraussicht.
Awaraháms Bemühungen, ein Grab für Sara zu erwerben, zeugen besonders von Voraussicht. G”tt hatte ihm gesagt:וְנָֽתַתִּ֣י לְ֠ךָ וּלְזַרְעֲךָ֨ אַֽחֲרֶ֜יךָ אֵ֣ת ׀ אֶ֣רֶץ מְגֻרֶ֗יךָ אֵ֚ת כָּל־אֶ֣רֶץ כְּנַ֔עַן לַֽאֲחֻזַּ֖ת עוֹלָ֑ם וְהָיִ֥יתִי לָהֶ֖ם לֵֽא־לֹהִֽים׃ – Und Ich werde dir und deinen Nachkomen nach dir das Land deines Aufenthaltes, das ganze Land Kenaan, zum ewigen Besitze geben, und Ich will ihnen G”tt sein (Berejschít 17:8). Awrahám wies das Geschenk von Efrón zurück und bestand darauf, die Höhle Machpelá zu kaufen. Warum? Wurde der grosse Denker, der Begründer der Dynastie Israels, der אַב־הֲמ֥וֹן גּוֹיִ֖ם – Vater vieler Völker (Ebd. Vers 4) – zynisch, G”tt behüte? Von den Chittitern hörte er:נְשִׂ֨יא אֱ־לֹהִ֤ים אַתָּה֙ בְּתוֹכֵ֔נוּ בְּמִבְחַ֣ר קְבָרֵ֔ינוּ קְבֹ֖ר אֶת־מֵתֶ֑ך – Ein Fürst G”ttes bist du unter uns. In dem besten unserer Gräber begrabe deine Tote (Ebd. 23:6). Und Efrón bestätigte:הַשָּׂדֶה֙ נָתַ֣תִּי לָ֔ךְ וְהַמְּעָרָ֥ה אֲשֶׁר־בּ֖וֹ לְךָ֣ נְתַתִּ֑יהָ לְעֵינֵ֧י בְנֵֽי־עַמִּ֛י נְתַתִּ֥יהָ לָּ֖ך – Das Feld schenke ich dir, und die Höhle, die darin ist, schenke ich dir auch; vor den Augen der Söhne meines Volkes schenke ich sie dir (Ebd. Vers 11). Brauchte Awrahám noch eine grössere Sicherheit, dass das Versprechen G”ttes erfüllt wurde?
Gewiss, Efrón sagt nicht gerade: „Wir erkennen an, dass G”tt dir dieses Land gegeben hat. Wir erkennen das an, nimm deshalb, was dir gehört“. Vielmehr erkennen die Chittiter zwar Awraháms religiöse Stellung alsנְשִׂ֨יא אֱ־לֹהִ֤ים – als Fürst G”ttes – an, aber Efrón betont auch, dass er es ist, der Awrahám das Land überlässt. Er sagt נָתַ֣תִּי לָ֔ךְ und לְךָ֣ נְתַתִּ֑יה und noch einmal נְתַתִּ֥יהָ לָּ֖ך – ich schenke es dir.
Die Geschichte ist bekannt. Awrahám weist Efróns fragwürdiges Geschenk zurück und kauft das Grundstück lieber, wobei er für dieses Privileg viel Geld bezahlt.
Auf einer Ebene ist das eine Geschichte über Awraháms treues Festhalten an G”ttes Versprechen. Wenn G”tt ihm das Land Israel verspricht und ihn zum Herrscher über dieses Land macht, dann hat Efróns Geschcnk mit diesem Versprechen zu wenig Ähnlichkeit. Awrahám gibt aber nicht auf, sondern ist bereit, Geld zu zahlen, um sein von G”tt zugesichertes Ziel zu erreichen.
Es gibt aber auch eine bittere Ironie in dieser Angelegenheit. Denn Awrahám wurde zwar das Land versprochen, aber er bekommt es nicht, sondern muss es kaufen. In seiner Entscheidung, das zu tun, erwies sich Awrahám in der Tat als weise und vorausschauend. Er war keineswegs zynisch, sondern lehrte uns, was Bittachón bedeutet.
Awrahám ist vorausschauend, denn unser Volk ist in der gleichen Situation gewesen, und wir werden ständig daran erinnert, dass die Rechte von Juden am Land Israel in Frage gestellt werden.
Wir haben alle öfters viele unglaubliche Geschichten von Wundern gehört. Manche sind zweifellos wahr, aber leider auch mit schönen Märchen vermischt – mit Geschichten, die schön sind, aber doch Legende. Beeindruckt von dieser Art, Geschichten zu erzählen, neigen wir zu der Vorstellung, dass Bittachón darin besteht, dass sich ein Mensch weigert, die üblichen Regeln des Spiels des Lebens einzuhalten. Stattdessen verlässt er sich darauf, dass G”tt eingreift, und seine Beharrlichkeit wird durch einen solchen Eingriff belohnt. Derartige Einstellungen prägen unsere Gespräche über die g”ttliche Vorsehung. Wenn wir versuchen, die Hand G”ttes zu sehen (was höchst löblich ist), konzentrieren wir uns auf Geschichten, in denen es gerade vor einem katastrophalen Ereignis eine Wendung zum Guten gibt oder in denen etwas besonders Erfreuliches passiert. Wir erzählen also von Menschen, die ein Flugzeug verpasst haben, das später abgestürzt ist. Wir erzählen von jemandem, der grosse Anstrengungen unternommen hat, Gutes zu tun, und plötzlich einen Gewinn macht, der genau den Ausgaben für seine guten Taten entspricht. Sicher sind viele dieser Geschichten wahr, während viele andere zu den städtischen Legenden gehören, aber solche Vorstellungen von Bittachón und Haschgachá Peratít sind zu eng. Sie kommen daher, dass wir oft nicht in der Lage sind, die Fürsorge G”ttes wahrzunehmen, wenn sie sich nicht in einem Wunder äussert. Wir sind von Jahrhunderten der Machtlosigkeit beeinflusst, in denen wir uns Wunder gewünscht haben, und von Jahrhunderten der Nähe zu einer gewissen dominanten Kultur, in denen wir eine Bestätigung unseres Glaubens durch diese Wunder gesucht haben.
Awrahám lehrt uns, dass Bittachón etwas anderes ist: nicht unbedingt, die Dinge still und ruhig G”tt zu überlassen, sondern enorme Anstrengungen zu unternehmen, um das zu erreichen, was G”tt uns verspricht. Seine Versprechen sind nämlich auch Herausforderungen, vor die Er uns stellt. Tun wir unseren Teil und verstehen wir, dass es G”ttes Hand ist, die alles lenkt, auch wenn es so aussehen mag, als hätten Menschen gehandelt? Oder versagen wir in diesem Punkt, jagen den Geschenken von Menschen nach und glauben, dass das alles ist, was wir bekommen können? Oder noch schlimmer, werden wir zynisch und verlieren das Vertrauen in G”ttes Geschenke völlig?
Tatsächlich sind die jüdischen Vorstellungen von g”ttlicher Vorsehung, von Bittachón, von Lohn und Strafe und verwandten Begriffen, recht komplex. Letztlich gibt es Gerechtigkeit, letztlich werden die Gerechten belohnt und die Bösen verlieren, aber eine einzige, einfache Möglichkeit, historische Ereignisse vorherzusagen oder auch nur nachträglich zu analysieren und zu verstehen, gibt es nicht.
Diese Lektion ist besonders relevant, wenn wir die jüdische Demographie und die Zukunft jüdischer Gemeinden in aller Welt betrachten. Prof. Sergio Della Pergolla vom Jewish People Population Policy Institute in Israel war vor zwei Wochen in Basel. Im Tachles von letzter Woche wird er mit folgenden Bemerkungen zu unserer Bevölkerungsentwicklung zitiert:
- „Wesentlich wäre also, mehr jüdische Kinder zur Welt zu bringen.“ (Tachles 18. November 2005, pg. 28)
- „Die jüdische Erziehung muss die grundlegenden Quellen zur jüdischen Identität eröffnen, wenn sie auch nicht die einzige Antwort in dieser Hinsicht ist.“ (Ebd. S. 30)
- „Die jüdische Erfahrung ist sehr attraktiv, und die Menschen der heutigen jüngeren Generation suchen nach einem Sinn. Wir müssen doch fähig sein, ihnen das zu geben, was sie suchen. Wenn wir es nicht tun, werden sie sich dem Buddhismus oder der New-Age-Bewegung zuwenden.“ (Ebd. S. 31)
Es ist schön und wichtig, darauf zu vertrauen, dass G”tt das jüdische Volk nicht verschwinden lassen wird. Sinnvoll wird dieser Bittachón aber erst, wenn wir selbst – mit unserem Geld, mit unseren Kräften und unserem Körper – dafür sorgen, dass es mehr jüdische Kinder gibt, die auch jüdisch erzogen werden. Es macht nicht so viel aus, wo sie erzogen werden – ob in Basel, in Zürich oder in Israel. Es macht nicht so viel aus, ob ein Kind zu Fuss zur Schule geht, einen Bus nimmt oder mit der Bahn unterwegs ist. Es soll auf eine gute jüdische Schule gehen. Aber auch wenn es eine solche Schule besucht, reicht die schulische Erziehung nicht; sie muss von Zuhause unterstützt und durch Jugendarbeit ergänzt werden.
Wir sollten uns persönlich dafür einsetzen, grössere jüdische Familien zu unterstützen, und dazu beitragen, dass möglichst viele jüdische Kinder eine intensive jüdische Erziehung bekommen. Wir sollten uns bemühen, selbst Kinder zu haben, mehr Kinder zu haben und unsere Kinder, Enkel und Urenkel jüdisch zu erziehen. Erst dann können wir Bittachon suchen, und dafür beten, dass G’tt uns Erfolg bringen möge. Wenn wir aber ein Gefühl der Sicherheit haben, ein Gefühl, es sei doch nicht so schlimm, oder wenn wir meinen, wir könnten nicht so viel tun, dann ist das kein Bittachón, sondern Unvernunft.
Mordecháj sagte zu Esther אַל־תְּדַמִּ֣י בְנַפְשֵׁ֔ךְ לְהִמָּלֵ֥ט בֵּית־הַמֶּ֖לֶךְ מִכָּל־הַיְּהוּדִֽים׃ כִּ֣י אִם־הַֽחֲרֵ֣שׁ תַּֽחֲרִישִׁי֮ בָּעֵ֣ת הַזֹּאת֒ רֶ֣וַח וְהַצָּלָ֞ה יַֽעֲמ֤וֹד לַיְּהוּדִים֙ מִמָּק֣וֹם אַחֵ֔ר וְאַ֥תְּ וּבֵית־אָבִ֖יךְ תֹּאבֵ֑דו – Bilde dir nicht ein, im Haus des Königs zu entkommen, allein unter allen Juden, sondern wenn du schweigst zu dieser Zeit, wird den Juden Hilfe und Rettung von anderer Stelle erstehen, aber du und dein Vaterhaus, ihr werdet zugrundegehen. Bestimmt wird das jüdische Volk überleben. Ob aber die Gemeinde in Basel überleben wird, ob unsere Familien überleben werden – das hängt von unserem Einsatz ab. Ich hoffe, wir werden den Auftrag akzeptieren und selbst die Verantwortung dafür übernehmen, dass es mehr jüdisch erzogene jüdische Kinder gibt. Dann wird uns Ha-Kadósch barúch Hu bestimmt unterstützen und uns Erfolg bringen. Dann wird Er unseren Familien und unserer Gemeinde eine dauerhafte Existenz schenken. Und dann werden wir Bittachón zeigen. ט֗וֹב לַֽחֲס֥וֹת בַּֽידוָ֑ד מִ֝בְּטֹ֗חַ בָּֽאָדָֽם׃ – Besser, Zuversicht in G”tt zu haben, als auf den Menschen zu vertrauen (Tehillím 118:9). Amen.
1Berejschít Rabbá (Vilna) 64:4, 85:3, & Estèr Rabbá 6:3 lehren, dass Awrahám seine theologischen Erforschungen bereits im zarten Alter von drei Jahren angefangen hat. In Berejschít Rabbá (Vilna) 39:14 & 84:4 handelt es sich um Awraháms und Saras öffentliche Bemühungen, den Monotheismus bekannt zu machen.