Jom Kippúr, der „Versöhnungstag“, ist deutlich von Ritualen geprägt. Während dieses heiligen Tages verzichten wir für etwas mehr als fünfundzwanzig Stunden auf gewohnte körperliche Annehmlichkeiten wie Essen und Trinken, um den ganzen Tag lang unserem Schöpfer zu dienen. Wir beten, singen, lesen die Torá, hören vielleicht sogar einen Schi‘úr (religiösen Vortrag). Wir ziehen einen ganz weissen Kittel an, das Sargenes, umhüllen uns mit einem weissen Tallít und bedecken den Kopf mit einer weissen Kippá, und damit wenden wir uns wenigstens für diesen einen Tag von der auffallenderen Kleidung ab, die in Mode ist. Wir beschränken in dieser Zeit unseren Umgang mit anderen Menschen und vermeiden ganz allgemein Tätigkeiten, die uns zur Sünde bringen könnten. Man könnte sagen, dass wir einen ganzen Tag lang ein heiliges Leben führen, voller Spiritualität und ohne Materialismus.
Wenn wir bedenken, wie sehr die Traditionen von Jom Kippúr einen Rückzug aus dem gewohnten Leben betonen, wäre die Annahme naheliegend, dass es an diesem Tag um die Entwicklung der Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer geht. Das ist auch tatsächlich ein wichtiger Aspekt von Jom Kippúr.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Tag einen weiteren, nicht minder wichtigen Aspekt hat, nämlich die Verbesserung der Beziehungen zwischen Menschen. Die Mischná lehrt uns, dass viele Sünden im „rituellen“ Bereich allein durch den Ablauf des Tages von Jom Kippúr gesühnt werden; der Tag kann aber erst dann Sühne für Sünden gegenüber anderen Menschen bringen, wenn der Betroffene dem Sünder verziehen hat. Natürlich spielt bei jeder Mizwá die Beziehung zwischen Mensch und Gott eine Rolle, und das gilt sogar für rechtliche, ethische und moralische Verbote. Aber Gott vergibt uns nicht, solange der Mitmensch, dem wir Unrecht getan haben, das nicht zulässt (Mischná Jomá 8:9).
Wir sollten das Verzeihen nicht leicht nehmen. Stellen wir uns zwei Geschäftsfrauen vor, die wir Rachél und Leá nennen wollen. Die hypothetische Rachél macht Leá aggressiv Konkurrenz und nimmt ihr auf unmoralische Weise Kunden weg, so dass Leá ihr Geschäft nicht aufbauen kann. Vielleicht möchte Leá eines Tages Rachél verzeihen, aber es kann keine vollständige Verzeihung geben. Wissen Sie, warum? Weil Rachél Leá daran gehindert hat, ihr Geschäft genügend aufzubauen, hat Leá nicht nur in der Vergangenheit gelitten, sondern wird auch in der Zukunft weiter leiden. Leá kann Rachél für das verzeihen, was sie gestern erlitten hat, aber morgen wird sie weiteren Schmerz erfahren, den Rachél kaum noch verhindern kann. Eine solche Wirkung können unsere rücksichtslosen Handlungen haben.
Was halten wir in unserer Gemeinde für unerlässlich? Wo können wir ertragreich investieren? Mir scheint, dass es zwar viel Einigkeit in unserer Gemeinde gibt, dass aber die Hauptursache für die Uneinigkeit, die es in unserer Gemeinde auch gibt, nicht in religiösen Unterschieden, sondern in sozialer Distanz liegt.
Einmal erklärte eine Frau, nennen wir sie (um ihre Anonymität zu schützen) Chefzibá, sie habe seit über zwanzig Jahren nicht mehr mit Jankel gesprochen, weil er ihr etwas Schlimmes angetan habe. Als ein Bekannter fragte, worum es denn da gegangen sei, gab Chefzibá zur Überraschung aller Zuhörer zu – dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Die Namen sind erfunden, aber leider ist die Geschichte selbst wahr. Wenn wir vergessen haben, was uns empört hat, sollten wir dann nicht aufhören, die alten Wunden aufzureissen?
Die halachisch vorgeschriebene Reue für Sünden gegenüber den Mitmenschen und die halachischen Richtlinien für den Umgang von Menschen miteinander sind ein wunderschöner und vernünftiger Leitfaden für angemessene soziale Interaktion. In diesem Sinne möchte ich vier kurze Auszüge aus den Vorschriften über Laschón ha-Ra’ und zwei aus den Vorschriften über den Respekt gegenüber Torágelehrten vorstellen. Was die letzteren betrifft, möchte ich hinzufügen, dass nach meiner Überzeugung diese Regeln nicht nur für Torágelehrte gelten sollten, sondern auf alle Menschen angewendet werden können. Sie sind eine gute Grundlage für einen gebührenden Umgang mit anderen.
- Die Torá lehrt uns: „Du sollst nicht als Verleumder in deinem Volke umhergehen“ (Wajikrá 19:16). Wer ist ein Verleumder? Jemand, der Informationen zusammenträgt und dann von einem zum anderen geht und sagt: „Das hat der und der gesagt; das habe ich über den und den gehört“. Selbst wenn die Aussage wahr ist, und sogar, wenn sie keine Herabsetzung enthält, verletzt man damit ein Verbot und begeht eine schwere Sünde. […] Deshalb heisst es in der Torá unmittelbar darauf: „bleibe nicht untätig bei der Lebensgefahr [wörtlich: beim Blut] deines Nächsten“. (Kizzúr Schulchán Arúch 30:1)
- Es gibt noch eine viel grössere Sünde, die in demselben Verbot enthalten ist, nämlich die böse Rede, Laschón ha-Ra’. Damit ist gemeint, dass jemand über einen anderen etwas Herabsetzendes sagt, obwohl es wahr ist. Wer dagegen über den anderen Lügen verbreitet, wird als Verleumder, Mozí Schem Ra’, bezeichnet. Ein Verbreiter von böser Rede ist vielmehr einer, der mit anderen zusammensitzt und erzählt „das hat der und der gemacht, so und so waren seine Vorfahren, das und das habe ich über ihn gehört“ und dabei herabsetzende Dinge sagt. Dazu heisst es im Psalmvers: „Ausrotten wird der Ewige alle glatten Lippen, die Zunge, die gross daherspricht“ (Tehillím 12:4). Wer die böse Rede annimmt, ist noch schlimmer als derjenige, der sie verbreitet. Das Urteil über unsere Vorfahren in der Wüste [d.h. dass sie vierzig Jahre dort bleiben mussten, ehe sie ins Land Israel einziehen durften], wurde nur wegen böser Rede besiegelt. (Kizzúr Schulchán ‘Arúch 30:2)
- Wie weit geht der Begriff „böse Rede“? Wenn zum Beispiel einer den anderen fragt, „wo kann ich Feuer finden“, und jener antwortet, „wo gibt es Feuer? [hmmm] Im Haus von dem und dem, der hat viel Fleisch und Fisch, und da wird immer gekocht“ [dann ist auch das Laschón ha-Ra‘]. (Kizzúr Schulchán ‘Arúch 30:3)
- Es ist gleichgültig, ob jemand böse Rede in Anwesenheit des Betroffenen oder hinter seinem Rücken spricht und ob die Bemerkungen, wenn sie weitererzählt werden, dem anderen oder seinem Besitz Schaden zufügen oder ihm auch nur Schmerz oder Furcht bereiten – all das ist böse Rede. Ist die Sache schon in Gegenwart von drei Personen erzählt worden, ist zwar anzunehmen, dass sie allgemein bekannt ist. Wenn nun einer von den dreien die Sache weitererzählt, ist es aber doch böse Rede, wenn er die Absicht hat, sie noch mehr zu verbreiten. Welche Vorsichtsmassnahme kann ein Mensch ergreifen, um nicht zu böser Rede zu kommen? Wenn er ein Torágelehrter ist, soll er sich mit der Torá beschäftigen, und wenn er ein einfacher Mensch ist, soll er sich in Bescheidenheit üben. (Kizzúr Schulchán ‘Arúch 30:5)
- Wir lernen, dass es eine grosse Sünde ist, Torágelehrte zu beschämen oder zu hassen. Wer das tut, hat keinen Anteil an der Kommenden Welt [dem Jenseits], und für ihn gilt der Vers כִּי דְּבַר ה’ בָּזָה ‘denn das Wort des Ewigen hat er verachtet’ (Bamidbár 15:31). Stellen wir uns eine Welt vor, in der diese Vorschrift befolgt und sogar auf alle Menschen angewendet wird. Stellen wir uns vor, dass andere nicht beschämt und in Verlegenheit gebracht werden – ist das nicht eine schönere, einladendere Welt, eine Welt, in der wir alle gerne leben würden? Nun, so etwas ist möglich, es kommt nur auf uns an.
- Selbst wenn wir sehen würden, dass einer unserer Lehrer ein biblisches Verbot übertritt, sollten wir ihn nicht zurechtweisen, sondern sagen: „du hast uns Folgendes gelehrt“ (Schulchán ‘Arúch Jorè De‘á 242:22). Wenn der Lehrer ein rabbinisches Verbot übertritt, muss der Beobachter annehmen, dass es gute Gründe gab, das in diesem Fall zu erlauben. Erst nachträglich sollte man den Lehrer vorsichtig informieren und ebenfalls sagen: „du hast uns Folgendes gelehrt“ (Rema z.St.). Stellen Sie sich vor, diese Regeln würden in unserer Welt eingehalten. Stellen Sie sich vor, wir würden nicht aus dem Kritisieren einen Sport machen, sondern erst einmal davon ausgehen, dass der andere höchstwahrscheinlich weiss, was er tut, und erst dann vorsichtig im direkten Gespräch unsere Verwunderung ausdrücken. Wäre das nicht eine menschlichere Gesellschaft?
Die Torá erwartet, dass wir bessere soziale Beziehungen aufbauen, die nicht auf übermässiger Konkurrenz beruhen, sondern auf Wärme und Mitgefühl, Liebe und Freundschaft. Wie könnten wir sonst die Mischná verstehen, die sagt: הֶוֵי מְקַבֵּל אֶת כָּל אָדָם בְּסֵבֶר פָּנִים יָפוֹת ‘empfange jeden Menschen mit freundlichem Gesicht’ (Pirkéj Awót 1:15)? Ist das nicht eine viel erstrebenswertere Gesellschaft? Ganz bestimmt, und wir können helfen, sie aufzubauen – hier, bei uns.
Betrachten wir nun einige Vorschriften über das Verhältnis zu Torágelehrten:
Die Forderung, Menschen wohlgesinnt zu sein und so lange wie nur irgend möglich anzunehmen, dass sie es gut meinen und korrekt handeln, reicht sehr weit. So lernen wir:
Eine solche Gesellschaft ist keine unrealistische Utopie, sondern – jedenfalls auf lokaler Ebene – durchaus möglich. Wir – wir alle – können nur gewinnen, wenn wir uns um mehr Nähe, Freundschaft, Liebe, Unterstützung und Freundlichkeit bemühen. Das ist eine Wachstumsindustrie und kann ein wunderbares Exportprodukt sein. Möge unsere Stadt und unsere jüdische Gemeinde so angenehm sein, dass Juden und Nichtjuden in Nah und Fern von unserer persönlichen Wärme und unserem sozialen Zusammenhalt erzählen werden. Das ist das genaue Gegenteil des unbegründeten Hasses, der – so lehren uns unsere Weisen – zur Zerstörung unseres zweiten Tempels geführt hat. Nutzen wir die Gelegenheit, aufeinander zuzugehen, Hass und Abneigung gegen unsere Nachbarn und Mitmenschen zu überwinden. Nutzen wir die Gelegenheit, einander die Hand zu reichen. Möge der Allmächtige uns gnädig sein, unter uns Juden wachsende Brüderlichkeit sehen und uns all unsere vergangenen Sünden vergeben.