Retten und heilen
Zu den besonderen Eigenschaften unseres Volkes gehört unsere Praxis, Zedaká zu tun (לַעֲשׂוֹת צְדָקָה). Wenn wir einen Blick auf Mitteilungsblätter und Quartierszeitungen in Israel werfen, dann staunen wir mit Recht über die Kreativität unseres Volkes, das treffend als רַחֲמָנִּים בְּנֵי רַחֲמָנִּים ’Barmherzige, Kinder von Barmherzigen’ bekannt ist. Eine Vielzahl von „Gemachim“ bemühen sich, zu helfen, zu unterstützen, zu trösten, zu erleichtern, zu heilen, zu retten oder wiederherzustellen, wo immer jemand das braucht. Für jedes Bedürfnis gibt es ein Angebot; niemand muss nach einer persönlichen Tragödie die Folgen einsam und allein tragen.
Ha-Schém hat Seinen Bund mit unserem Stammvater Awrahám zum Teil genau wegen dieser Eigenschaft geschlossen:
כִּי יְדַעְתִּיו לְמַעַן אֲשֶׁר יְצַוֶּה אֶת־בָּנָיו וְאֶת־בֵּיתוֹ אַחֲרָיו וְשָׁמְרוּ דֶּרֶךְ ה’ לַעֲשׂוֹת צְדָקָה וּמִשְׁפָּט […]:
Denn ich habe ihn erkoren, damit er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm gebiete, den Weg ha-Schems einzuhalten, Gerechtigkeit (Zedaká) und Recht zu üben […]. (Bereschít 18:19)
Wahre, richtige Zedaká hält Gott sogar für grösser als alle Opfer im heiligen Tempel, wie Schelomó ha-Mèlech lehrt:
עֲשֹׂה צְדָקָה וּמִשְׁפָּט נִבְחָר לַה’ מִזָּבַח:
Gerechtigkeit (Zedaká) und Recht zu üben, ist ha-Schem angenehmer als Opfer. (Mischléj 21:3)
Und wegen unserer Zedaká wird die Erlösung kommen, wie wir beim Propheten Jescha‘jáhu lesen:
צִיּוֹן בְּמִשְׁפָּט תִּפָּדֶה וְשָׁבֶיהָ בִּצְדָקָה:
Zion wird durch Recht erlöst werden und seine Rückkehrenden durch Gerechtigkeit (“Zedaká”). (Jescha‘jáhu 1:27)
Wie zahlreiche traditionelle jüdische Denker betonen, ist es das Ziel der Torá und ihrer Mizwót, uns zu veredeln (תיקון המידות והנשמה), uns zu ermöglichen, über unseren Körper aus Fleisch und Blut hinauszugehen und uns Gott anzunähern (דביקות בשם יתברך). Dazu, so meinen wir sicherlich, eignen sich in erster Linie rituelle und sonstige spirituelle Gebote – Mizwót bejn Adám la-Makóm. Aber die Torá betont besonders, dass auch Zedaká eine spirituelle Bedeutung hat.
Intuitiv spüren wir auch alle, dass Zedaká für unsere Identität ganz zentral ist. Sogar in denjenigen, die leider nur selten den Weg in die Synagoge finden, schlägt das Herz jüdischer Solidarität stark, und sie unterstützen ihre jüdischen Brüder grosszügig. Zedaká ist so wichtig für unsere Identität und für unseren Fortbestand, dass wir sie äusserst ernst nehmen müssen.
Würden wir unsere Ersparnisse in ein Schneeballsystem investieren? Würden wir Investmentfonds mit zu hohen Verwaltungskosten in Betracht ziehen, auch wenn sie ganz seriös sind? Würden wir unser Vermögen in eine Firma stecken, die mehr Kosten verursacht, als sie Gewinn einbringt? Weshalb sollten wir Zedaká weniger sorgfältig betrachten? Wer möchte nicht, dass seine Spenden möglichst viel helfen? Es handelt sich um eine spirituelle Investition und um Solidarität mit Kelál Jissra’él, und daher wollen wir bestimmt die effektivste Zedaká, die es gibt.
Es ist also legitim zu fragen, was Zedaká eigentlich ist. Sollten wir das Wort Zedaká als Wohltätigkeit übersetzen, und ist Zedaká immer dann effektiv, wenn wir sie irgendwelchen gemeinnützigen Organisationen zukommen lassen, bei denen die Spenden von der Steuer abgezogen werden können? Es kann nicht überraschen, dass wir eine solche Ansicht ablehnen. Steuerabzugsfähigkeit ist kein Kriterium dafür, ob etwas Zedaká ist. Spenden an den Basler Zoo sind vermutlich steuerabzugsfähig – aber ist das Zedaká? Sicher nicht. Museen, Theater und dergleichen nehmen steuerbegünstigte Spenden an, aber können wir behaupten, dass das als Zedaká zählt?
Ist Unterstützung für Tiere, Museen oder die Künste, sogar in Israel, Zedaká? Die Halachá betrachtet selbst Spenden für den Bau und Unterhalt einer Synagoge – zwar sicherlich eine angemessene und heilige Verwendung unseres Geldes – nicht immer als Zedaká1 (auch wenn das manchmal Zedaká sein kann2)!
Es gibt viele unterstützenswerte Projekte, aber nicht jedes Projekt ist unterstützenswert, und auch die unterstützenswerten sind nicht alle gleich wichtig und sogar davon fallen nicht alle unter Zedaká.
Was also ist Zedaká und wo sollten wir bei unseren Spenden die Prioritäten setzen? Eine Stelle in unserer Paraschá gibt uns einen Hinweis. Es fängt damit an, den anderen zu sehen:
אִם־כֶּסֶף תַּלְוֶה אֶת־עַמִּי אֶת־הֶעָנִי עִמָּךְ […]:
Wenn du meinem Volke, dem Armen bei dir, Geld leihst […]. (Schemót 22:24)
Erstens müssen wir uns also bewusst machen, dass der Arme עִמָּךְ ist, d.h. mit uns, Teil von uns. Es ist wichtig, zu verstehen, דֵּי מַחְסֹרוֹ אֲשֶׁר יֶחְסַר לוֹ ‘was hinreicht für den Mangel, den er hat’ (Dewarím 15:8), also zu erkennen, worin die Bedürfnisse anderer Menschen bestehen und was ihnen fehlt. Es geht dabei sowohl um physisches Wohlbefinden als auch um spirituelle Bedürfnisse. Wir können doch nicht behaupten, dass wir für unsere Brüder sorgen, wenn wir zwar ihre Suppenküche unterstützen, aber uns weigern, den Armen Tefillín zu kaufen, wenn wir zwar bereit sind, für ihre berufliche Ausbildung zu zahlen, aber nicht für ihr Torálernen, für ihr geistiges Wohl. Wir müssen unseren Brüdern helfen, wieder שָׁלֵם, ganze Menschen zu werden.
Zweitens hat Hilfe zur Selbsthilfe Priorität (s. Kizzúr Schulchán ‘Arúch 34:12). Die Torá hält es für besser, Geld zu verleihen (natürlich ohne Zinsen) als einen (in der Regel kleineren) Betrag zu schenken. Ein grosszügiger Gläubiger kann auch einfach „vergessen“, die Schuld einzufordern.
Drittens lehren uns die Worte אֶת־עַמִּי אֶת־הֶעָנִי עִמָּךְ ein weiteres sehr wichtiges Prinzip. Bei Zedaká geht es um innerjüdische Solidarität. Selbstverständlich leisten wir auch einen Beitrag dazu, Nichtjuden in unserer Gesellschaft zu helfen, aber das ist nicht Zedaká, sondern folgt aus dem Prinzip von Darchéj Schalóm (s. Kizzúr Schulchán ‘Arúch 34:3): „Die Wege der Torá sind Wege der Anmut und all ihre Pfade Frieden“ (Mischléj 13:17). Aber Zedaká ist das nicht und darf deshalb keinesfalls mit der Notwendigkeit in Konflikt geraten, jüdische Solidarität, jüdische Identität und praktiziertes Judentum zu stärken.
Und schliesslich ist es auch richtig, im Rahmen der innerjüdischen Solidarität unsere Prioritäten zum Teil danach zu setzen, wie עִמָּךְ, wie nahe uns jemand ist. Unsere Weisen lehren: עֲנִיֵּי עִירְךָ וְעֲנִיֵּי עִיר אֲחֶרֶת עֲנִיֵּי עִירְךָ קוֹדְמִין ‘[wenn es um] die Armen deiner Stadt und die Armen einer anderen Stadt [geht], so kommen die Armen deiner Stadt zuerst’ (Mechiltá Mischpatím 19). Sind in unserer eigenen Stadt alle so wohlhabend und gut abgesichert, dass wir nur in fernen Ländern Gelegenheiten für Zedaká finden können? Und gibt es so wenige Menschen, die – sei es hier, sei es in Israel oder anderswo – finanziell kaum durchkommen, dass wir unsere wertvollen Zedaká-Gelder in grossartige Projekte investieren müssten, die weder irgendjemanden ernähren noch unsere zentralen Werte verbreiten? Kümmern wir uns vielleicht manchmal zu viel um schöne Gebäude und Gemeindezentren als um die armen Juden, die sich das Schulgeld für die jüdische Erziehung ihrer Kinder nicht leisten können?
Was Zedaká ausmacht, das ist אֶת־עַמִּי אֶת־הֶעָנִי עִמָּךְ, Solidarität und Sorge um die physischen und spirituellen Bedürfnisse unserer Brüder. Darin drückt sich die für uns typische Barmherzigkeit und Nächstenliebe aus, die es Awrahám ermöglichte, sich und seine Nachkommen dauernd Gott anzunähern, und die במהרה בימינו unsere Erlösung bringen wird.
Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Paraschát Mischpatím,
26. Schewát 5768 (2. Februar 2008)
1„Man verwende von seinem Zehnten nicht für ein frommes Werk, wie zum Beispiel für Lichter in der Synagoge oder andere fromme Werke, sondern gebe ihn den Armen. […] wenn man sonst nicht dazu imstande wäre und das fromme Werk mit seinem eigenen Vermögen nicht vollbringen würde, kann man es mit dem Zehnten machen.“ (Kizzúr Schulchán ‘Arúch 34:4)
2Spendet man für den notwendigen Unterhalt oder den Bau einer öffentlichen Synagoge, gilt auch das als Zedaká (Schulchán ‘Arúch Jorè De‘á 249:16), nicht aber Spenden für Dinge, die nicht erforderlich sind (z.B. neue Schmuckstücke für bereits geschmückte Sifréj Torá). Was notwendig ist, variiert je nach den Bedürfnissen der Gemeinde und ihren Mitgliedern. Jedenfalls sind Spenden für ein Bejt Midrásch (religiöses Lehrhaus) und für Stipendien für diejenigen, die dort lernen, eine noch höhere Stufe der Zedaká als Spenden für eine öffentliche Synagoge (ebd.).