Dies ist die Geschichte von jemandem, mit dem ich gemeinsam die Jeschiwá besuchen durfte, Avraham David Weiss. Jahrelang hatte ich keinen Kontakt mehr mit ihm, weil wir unsere Studien an verschiedenen Institutionen fortsetzten. So wusste ich nicht, dass er geheiratet und sich in Upstate New York niedergelassen hatte; ich wusste nichts von seinen Kindern und seinem Beruf. Vor etwa zwei Jahren erfuhr ich aber, dass Avraham David Weiss an einer derzeit nicht heilbaren Krankheit leidet, der amyotrophen Lateralsklerose (ALS), die auch als Lou-Gehrig-Syndrom bekannt ist. Es handelt sich um eine fortschreitende degenerative Erkrankung der Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark; sie äussert sich in zunehmendem Verlust der Fähigkeit, die Muskeln zu kontrollieren, und führt schliesslich zu Lähmung und Tod.
Als ich Avraham David Weiss vor fast einem Jahr das erste Mal besuchte, brauchte er schon rund um die Uhr Hilfe; er konnte weder selbst stehen noch essen. Seine Sprache war verwaschen und kaum hörbar, aber er legte Wert darauf, mit seinen Kindern ihre Hausaufgaben durchzugehen und ging weiter regelmässig zur Synagoge, um zu beten. Während meiner Reise wurde ich zu einem Chanukká-Fest eingeladen, das bei ihm zu Hause stattfinden sollte, um ihn aufzumuntern.
Inzwischen hat sich sein Zustand weiter verschlechtert. Er kann überhaupt nicht mehr sprechen und benutzt einen Computer, der seine geschriebenen Texte in eine digitale Stimme umwandelt. Natürlich sind die Kosten für seine Pflege enorm. Er braucht ständig Hilfe im Haus und musste in eine Erdgeschosswohnung umziehen. Weil ALS derzeit noch nicht heilbar ist, besteht die einzige Hoffnung darin, das Fortschreiten der Krankheit durch Versuche mit Medikamenten und Therapien zu verzögern. Sie beruhen auf noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen und sind deshalb umstritten – und werden von den Krankenversicherungen nicht bezahlt. Seit über einem Jahr bemühen sich Freunde darum, Avraham David finanziell zu unterstützen, aber die aufgebrachten Summen bleiben notgedrungen hinter seinen Bedürfnissen zurück.
So waren wir also bei diesem Chanukká-Fest und versuchten, Avraham David eine Freude zu machen. Wir assen Beigels und Doughnuts, erzählten Chanukká-Geschichten, Diwréj Torá und Anekdoten aus unserer Zeit in der Jeschiwá. Obwohl er nicht sprechen konnte, konnte er lachen und uns durch sein Augenzwinkern zeigen, wie sehr er unsere Anwesenheit schätzte. Wir versuchten unsere Trauer darüber, dass wir ihn in einem solchen Zustand sehen mussten, zu verbergen. Plötzlich fing eine metallische Stimme an, zu sprechen. Mit seiner synthetischen Stimme äusserte Avraham David seinen Dank für die grosse Freude, die wir ihm mit diesem Fest bereiteten – und bat uns um einen finanziellen Beitrag für einen Fond zur Unterstützung armer Menschen in Israel, den er gegründet hatte. Wie bitte? Er kann weder laufen noch stehen, aber sammelt Gelder für andere? Als ich durch seinen Flur ging, sah ich tatsächlich einige Plakate, die seine öffentlichen Bemühungen für die Armen bewiesen.
Er weiss, dass er eines Tages nicht mehr da sein wird, und auch wir, die wir – Gott sei Dank – gesund sind, werden eines Tages nicht mehr da sein. Er weiss auch, dass er dann nicht seinen Kronleuchter, seine Bibliothek oder seine beruflichen Erfolge mitnehmen kann, sondern nur seine guten Taten, seine Zedaká, seine Erfüllung der Torá. Das kann und wird ihm niemand wegnehmen.
Was gibt einem Menschen, der selbst in grösster Not ist, die Kraft, innezuhalten und sich für die Armen zu engagieren? Es gibt keine hinreichende Antwort, aber Avraham David ist der lebendige und inspirierende Beweis dafür, dass Menschen zu solcher Grösse fähig sind.
Spulen wir schnell vor zur Torálesung dieser Woche. Die Geschichte von Moschè Rabbénu handelt nicht nur davon, wie er der Mittler wurde, durch den Gott unsere Vorfahren (und somit letztlich uns) erlöste. Sie ist auch die Geschichte eines grossen Mannes, eines der grössten überhaupt, und sein Leben sollte für uns alle eine Anregung sein.
שלשה דברים נתן משה נפשו עליהן ונקראו על שמו. נתן נפשו על התורה ונקראת על שמו שנאמר זכרו תורת משה עבדי והלא תורת א להים היא דכתיב תורת ה’ תמימה אלא לפי שנתן נפשו עליה […]
נתן נפשו על ישראל ונקראו על שמו שנאמר לך רד כי שחת עמך הלא עם ה’ הם […] אלא לפי שנתן נפשו עליהן שנאמר ויגדל משה ויצא אל אחיו וירא בסבלותם נקראו על שמו.
נתן נפשו על הדינין שנאמר שופטים ושוטרים תתן לך והלא המשפט לא להים הוא אלא לפי שנתן נפשו על הדינין […].Für drei Dinge opferte sich Moschè auf, und sie werden [deshalb] nach ihm genannt.
Er opferte sich für die Torá auf, und sie wird nach ihm genannt, wie es heisst: „Gedenkt der Torá meines Dieners Moschè“ [Mal’achí 4:4]. Aber sie ist doch Gottes Torá, denn es heisst: „Die Torá Gottes ist vollkommen“? [Tehillím 19:8] Weil er sich für sie aufopferte […].
Er opferte sich für [das Volk] Israel auf, und es wird nach ihm genannt, wie es heisst: „Geh, steige hinab, denn schwer gesündigt hat dein Volk“ [Schemót 32:7]. Aber es ist doch das Volk Gottes, […]? Weil er sich für es aufopferte, wie es heisst, „als Moschè herangewachsen war, ging er zu seinen Brüdern hinaus und sah sie schwer arbeiten” [Schemót 2:11], wird es nach ihm genannt.
Er opferte sich für die Gerechtigkeit und die Leitung1 [des Volkes] auf, wie es heisst: „Richter und Vollzugsbeamte sollst du dir einsetzen“ [Dewarím 16:18]. Aber es ist doch die Gerechtigkeit Gottes? Weil er sich für die Gerechtigkeit aufopferte […]. (Jalkút Schim‘oní §167 zu Schemót Kap. 2)
Der Erfolg kommt nicht von selbst, er verlangt Arbeit, ernsthafte Arbeit, viel Arbeit. Aber der Aufwand lohnt sich. Moschè, der so schwer arbeitete, leitete uns, als Gott uns aus Ägypten herausholte, und er lehrte uns den Weg des Lebens, des jüdischen Lebens. Dafür werden wir alle sein Volk genannt.
Selbstverständlich erwartet niemand, dass er in nächster Zeit aufgefordert wird, auf den Berg Sináj zu steigen und Gesetzestafeln entgegenzunehmen. Der chassidische Rebbe Reb Sussja von Annipoli pflegte zu sagen: Ich befürchte nicht, dass mich das himmlische Gericht nach meinem Tod fragen wird, warum ich nicht das Niveau von Moschè erreicht habe, denn ich bin doch nur Sussja. Aber ich befürchte, dass es mich fragen wird: „Sussja, Sussja, warum bist du nicht wie Sussja geworden?!“
Wir können nicht wie Moschè sein, aber Avraham David Weiss zeigt uns, dass wir ein viel grösseres Potential haben, als wir meinen. Für jeden einzelnen von uns gibt es eine himmlische Stimme, eine Bat Kol, die unseren Namen ruft, so wie „Sussja, Sussja, warum bist du nicht wie Sussja?!“. Dieses Prinzip betrifft alle Bereiche des jüdischen Lebens, ob es um Mizwót gegenüber den Mitmenschen oder gegenüber Gott geht. Mögen wir alle diese innere Stimme hören und verstehen, die ruft: „Sussja, Sussja, warum bist du nicht wie Sussja?!“
Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Paraschát Schemót,
23. Tewét 5767 (13. Januar 2007)
1Beides ist in den hebräischen Wörtern דִּין, שׁוֹפֵט und מִשְׁפָּט enthalten.