Gute und böse Augen

DeutschEin sehr reicher Mann hatte zwei Söhne, die in einem weit entfernten Teil des Landes wohnten. Der eine war reich wie sein Vater, der andere war leider arm. Als ihre Schwester heiraten sollte, schickte der Vater dem reichen Sohn folgende Einladung mit der Bitte, seinen weniger erfolgreichen Bruder zu informieren: „Du und dein Bruder und eure Familien werden bei der Hochzeit erwartet. Ich werde euch beiden gerne alle Ausgaben erstatten, die ihr tätigt, um mich zu ehren.“ Der reiche Sohn war begeistert. Er und seine Frau fingen sofort mit den Vorbereitungen an, wählten für sich die vorzüglichsten Kleider aus und für ihre Kinder die aufwendigsten Kostüme. „Warum sollte ich sparen“, dachte er, „wenn mir mein Vater alles bezahlt?“ Sie mieteten eine Kutsche, die sie zur Hochzeit der Schwester bringen sollte, und es war ein unvergesslicher Anblick, wie die Familie zu dem grossen Fest aufbrach. Aber in all der Aufregung hatten sie vergessen, den armen Bruder über die Einladung zu informieren, und erst im letzten Augenblick, als sie schon unterwegs waren, dachten sie an ihn. Sie hielten kurz vor seiner ärmlichen Behausung, und weil keine Zeit zu verlieren war, musste er so, wie er war, in die Kutsche springen – barfuss und in alten abgerissenen Kleidern.

Der glückliche Vater strahlte vor Stolz, als er die prächtige Kutsche kommen sah, mit seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und den Enkeln in den feinsten Festkleidern. Aber wer war denn dieser schäbig gekleidete Bettler, der als letzter aus der Kutsche ausstieg? Der Vater war nicht mehr erfreut, sondern schockiert und peinlich berührt, als er sah, dass der Mann in Lumpen niemand anders war als sein zweiter Sohn.

Als die Hochzeit vorbei war und die letzten Gäste abgefahren waren, legte der reiche Sohn seinem Vater eine detaillierte Rechnung vor und bat ihn, ihm die Auslagen möglichst bald zu erstatten. Aber der Vater antwortete: „Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Du scheinst dich nicht mehr daran zu erinnern, was ich dir versprochen habe. Ich habe dir zugesagt, dass ich dir alle Ausgaben erstatten würde, die du tätigst, um mich bei der Hochzeit meiner Tochter zu ehren. Und hast du mich geehrt? Keineswegs. Im Gegenteil, du hast mir Schande gemacht. Wenn du mich hättest ehren wollen, so hättest du getan, was jeder anständige Mensch tun würde: Du hättest dafür gesorgt, das sich auch dein armer Bruder hätte angemessen kleiden können. Das wäre ein Zeichen von Güte und Wohltätigkeit gewesen, das deines Vaters würdig gewesen wäre. Erzähle mir nur nicht, dass du deine eigenen Festkleider mir zu Ehren gekauft hast. Das ganze Geld hast du nur ausgegeben, um dir Vergnügen zu bereiten. Es gibt keinen Grund, warum ich für deinen törichten Luxus bezahlen sollte.“1

Diese Geschichte zeigt eine der vielen Formen, die der schlimme Charakterzug von ‘Ájin rá‘a annehmen kann. Meistens verbindet man ‘Ájin ha-rá‘, das „böse Auge“, mit irgendeiner magischen oder dämonischen Vorstellung, an die man glaubt oder nicht. Die einen meinen, dass die negative Einstellung anderer wirklich Folgen für sie hat; die anderen bezweifeln das. Man kann darüber spekulieren, ob die Annahme, dass die Blicke und Gedanken anderer auf uns einwirken können, eine rationale jüdische Idee ist, eine echt jüdische mystische Vorstellung oder eine unhaltbare, aus einem nichtjüdischen Aberglauben importierte Ansicht. Das kann vielleicht am besten jeder für sich selbst entscheiden. Aber es steht ausser Zweifel, dass wenn die Mischná von ‘Ájin ha-rá‘ oder ‘Ájin rá‘a spricht, damit nichts Magisches oder Dämonisches gemeint ist, sondern ein Charakterzug – ein schlechter, sogar schrecklicher Charakterzug, eine destruktive Kraft in den zwischenmenschlichen Beziehungen. ‘Ájin ra‘á ist ein ungerechtfertigter Eingriff in das Leben eines anderen Menschen, der darauf beruht, dass man selbstgerecht die weitere Bedeutung von „du sollst nicht begehren“ nicht zur Kenntnis nimmt.

חֲמִשָּׁה תַלְמִידִים הָיוּ לוֹ לְרַבָּן יוֹחָנָן בֶּן זַכַּאי, וְאֵלּוּ הֵן, רַבִּי אֱלִיעֶזֶר בֶּן הֻרְקְנוֹס, וְרַבִּי יְהוֹשֻׁעַ בֶּן חֲנַנְיָה, וְרַבִּי יוֹסֵי הַכֹּהֵן, וְרַבִּי שִׁמְעוֹן בֶּן נְתַנְאֵל, וְרַבִּי אֶלְעָזָר בֶּן עֲרָךְ. […] אָמַר לָהֶם, צְאוּ וּרְאוּ אֵיזוֹהִי דֶרֶךְ יְשָׁרָה שֶׁיִּדְבַּק בָּהּ הָאָדָם. […] רַבִּי אֱלִיעֶזֶר אוֹמֵר, עַיִן טוֹבָה. […] אָמַר לָהֶם צְאוּ וּרְאוּ אֵיזוֹהִי דֶרֶךְ רָעָה שֶׁיִּתְרַחֵק מִמֶּנָּה הָאָדָם. […] רַבִּי אֱלִיעֶזֶר אוֹמֵר, עַיִן רָעָה.

Fünf Schüler hatte Rabbán Jochanán ben Sakkáj, und diese sind es: Rabbi Eli‘èser ben Hurkenós, Rabbi Jehoschúa‘ ben Chananjá, Rabbi Josséj ha-Kohén, Rabbi Schim‘ón ben Netan’él und Rabbi El‘asár ben Arách. […] Er sagte zu ihnen: Gehet hin und sehet, welches der gerade Weg ist, dem der Mensch anhaften soll. […] Rabbi Eli‘èser sagte, ein gutes [d.h. wohlwollendes] Auge. […] Darauf sagte er zu ihnen: Gehet hin und sehet, welches der böse Weg ist, von dem sich der Mensch entfernen soll. […] Rabbi Eli‘èser sagte, ein böses [d.h. missgünstiges] Auge […]. (Mischná Pirkéj Awót 2:10,13-14)

Rabbán Jochanán ben Sakkáj, der das jüdische Volk während der tragischsten Periode in unserer Geschichte, der Zerstörung des zweiten Bejt ha-Mikdásch, leitete, bat seine Schüler nicht einfach um einen guten Rat. Die Zerstörung des Tempels, die er erlebt hatte, war von Gott wegen der enormen Uneinigkeit im jüdischen Volk beschlossen worden, wegen Sin’át chinnám, grundlosem und ungerechtfertigtem Hass. Daher forderte Rabbán Jochanán ben Sakkáj seine illustren Schüler auf, die Grundeinstellungen zu suchen, die die Sünde von Sin’át chinnám korrigieren und die Grundlage für eine friedliche jüdische Gesellschaft schaffen konnten. Ebenso sollten sie den zugrundeliegenden negativen Verhaltensweisen nachgehen, die das Auftreten von Sin’át chinnám ermöglichen.

Wie Rabbénu Menachém ha-Me’irí (13. Jh.) erklärt, interessierte sich Rabbán Jochanán ben Sakkáj für die Wurzeln aller guten und aller schlechten Charakterzüge. Me’irí zeigt ferner, wie jeder der fünf Schüler eine psychologische Theorie über gute Einstellungen und Charakterzüge aufstellt. So bedeutet ‘Ájin towá, ein gutes Auge,

[…] sich über das Glück anderer zu freuen, denn so wird man alle anderen lieben; er wird von allen akzeptiert und alle werden von ihm akzeptiert. Und die Liebe zur Menschheit [wörtl. Welt] ist die Grundlage für alle [guten] Charakterzüge. (Me’irí, Bejt ha-Bechirá, Awót 2:12)

Die Antworten der Schüler auf die zweite Frage (nach dem bösen Weg) entsprechen ihren Antworten auf die erste (nach dem geraden Weg). So antwortet Rabbi Eli‘èser ben Hurkenós „ein böses Auge“ im Gegensatz zu „ein schlechtes Auge“, und bis auf einen machen es die anderen genauso.2 Warum hat Rabbán Jochanán ben Sakkáj über­haupt beide Fragen gestellt? Ist nicht das, was wir vermeiden sollen, einfach das Gegenteil von dem, was wir anstreben sollen? Mit anderen Worten, kann man aus den Antworten auf die Frage nach dem geraden Weg nicht schon erschliessen, was die Schüler auf die Frage nach dem bösen Weg antworten werden?

Rabbénu Joná Gerondi (13. Jh.) antwortet, dass das Böse nicht unbedingt das direkte Gegenteil des Guten ist (Kommentar zu Mischná Pirkéj Awót 2:9). So stellt er beispielsweise fest, dass Frömmigkeit zwar nötig und gut ist, dass aber ein Mangel an Frömmigkeit einen Menschen nicht „unfromm“ oder „schlecht“ macht, sondern lediglich „nicht so gut“. Hätte Rabbán Jochanán ben Sakkáj nicht gefragt, „welches der böse Weg ist“, so hätten wir Leser meinen können, dass die fünf Schüler uns gute Ratschläge geben und uns empfehlen wollten, uns die von ihnen erwähnten guten Eigenschaften anzugewöhnen. Wir hätten aber nicht verstanden, wie destruktiv das Fehlen dieser positiven Charakterzüge sein kann. Um uns vor Unklarheit und Irrtum zu bewahren, bat er seine Schüler, den bösen Weg ausdrücklich zu benennen.

Um die destruktive Kraft von ‘Ájin ha-rá‘ zu unterstreichen, pflegte ein anderer Schüler, Rabbi Jehoschúa‘ ben Chananjá zu sagen:

עַיִן הָרָע וְיֵצֶר הָרָע וְשִׂנְאַת הַבְּרִיּוֹת מוֹצִיאִין אֶת הָאָדָם מִן הָעוֹלָם.

Böses Auge, böser Trieb und Hass gegen die Geschöpfe bringen den Menschen aus der Welt. (Mischná Pirkéj Awót 2:16)

Me’irí erklärt:

Ájin ha-rá‘, d.h. ein missgünstiges Auge [einem anderen sein Glück nicht zu gönnen] und Habsucht, Jézer ha-rá‘, d.h. Promiskuität, und Hass auf andere bringen den Menschen aus der Welt. […] Awót de-Rabbí Natán erläutert bezüglich ‘Ájin ha-rá‘, dass man so kleinlich und gemein sein kann, dass man den Ruin des anderen herbeiführen möchte. (Me’irí, Bejt ha-Bechirá, Awót 2:15)

Auch von der milderen Form, bei der die Missgunst ein Gefühl bleibt, das jemand in sich aufstaut,

soll niemand sagen, solche Kleinlichkeit sei doch nicht so schlimm, denn er habe doch den anderen nicht bestohlen oder beraubt. Die schlechte Wirkung ist nämlich gross. [‘Ájin ha-rá‘] ist die Grundlage aller schlechten Eigenschaften und führt schliesslich dazu, dass man alle möglichen schrecklichen Dinge rechtfertigt. (Rabbénu Joná 2:9)

Rabbénu Joná fügt hinzu, dass Kleinlichkeit uns wirklich als eine kleine Sache erscheinen mag, aber ehe wir uns versehen, wird sie enorm wachsen und uns überwältigen. ‘Ájin ha-rá‘ richtet den kleinlichen und gemeinen Menschen zugrunde; sein Neid und seine Unfähigkeit, das Glück des anderen zu akzeptieren, fressen ihn von innen her psychisch auf.

Wir wenden uns an Awínu sche-ba-Schammájim, unseren Vater im Himmel, in dem Wissen, dass wir sowohl unsere Pflichten Ihm gegenüber als auch unsere Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen nur unzulänglich erfüllt haben. Wenn es allein nach unserem Verdienst ginge, könnten wir vor Ihm nicht bestehen. Wir können nur auf Seine Barmherzigkeit hoffen und auf Seine Bereitschaft, unsere unbeholfenen Versuche, das Gute und Richtige zu tun, mit Wohl­wollen zu betrachten. Können wir behaupten, dass wir frei von ‘Ájin ha-rá‘ sind? Sind wir nicht alle ein wenig kleinlich? Sind wir nicht alle manchmal in Versuchung, gemein zu sein? Aber wie können wir darauf hoffen, dass Gott mit uns grosszügig verfährt, wenn wir das Glück eines anderen nicht einmal passiv ertragen können?

Wir bitten Gott darum, es mit unseren Fehlern nicht so genau zu nehmen, obwohl wir unvollkommen sind. Sollten wir denn dann nicht wenigstens gegenüber unseren Mitmenschen versöhnlich und ein bisschen grosszügig sein und die guten Seiten der Menschen sehen?

Die Antwort ist klar. Wir sollen uns alle vornehmen, Kleinlichkeit, Gemeinheit, Engstirnigkeit und andere Formen von ungerecht­fertigtem Hass, Sin’át chinnám, aus unseren Herzen zu vertreiben. Mögen wir dadurch der persönlichen Erlösung und der Erlösung als Volk würdig sein.

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Kol Nidréj,
Jom Kippúr 5768 (21. September 2007)

1Nach: The Maggid of Dubno and his Parables, New York: Feldheim 1978, S. 32f

2Für Rabbi Schim‘ón ist der gerade Weg, die Folgen des eigenen Handelns vorauszusehen oder zu verstehen, und der böse Weg, zu borgen und nicht zurückzuzahlen.

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