Mahlzeiten für den Geist

Wir nähern uns der Zeit des Jahres, in der es die meisten Feiertage gibt. Kurz nacheinander gehen wir in uns, begrüssen Gott respektvoll als König über alle, erwecken in uns in Ehrfurcht und Demut vor Ihm, wohnen draussen in der Sukká und freuen uns, bis wir schliesslich mit der Torá tanzen, um unsere Verbindung mit ihr auszudrücken. Die Basis all dieser Erfahrungen ist die Gottesfurcht. Wie aber kann es uns gelingen, mehr Ehrfurcht vor Gott zu entwickeln?

Die Torá gebietet uns:

עַשֵּׂר תְּעַשֵּׂר אֵת כָּל־תְּבוּאַת זַרְעֶךָ הַיֹּצֵא הַשָּׂדֶה שָׁנָה שָׁנָה׃ וְאָכַלְתָּ לִפְנֵי ׀ ה’ אֱלֹהֶיךָ בַּמָּקוֹם אֲשֶׁר־יִבְחַר לְשַׁכֵּן שְׁמֹו שָׁם מַעְשַׂר דְּגָֽנְךָ תִּֽירֹשְׁךָ וְיִצְהָרֶךָ וּבְכֹרֹת בְּקָרְךָ וְצֹאנֶךָ לְמַעַן תִּלְמַד לְיִרְאָה אֶת־ה’ אֱ־לֹהֶיךָ כָּל־הַיָּמִים׃

Von allem Ertrag deiner Saaten, der auf dem Feld wächst, sollst du Jahr für Jahr den Zehnten absondern. Du sollst ihn vor dem Ewigen, deinem Gott, an dem Ort essen, den Er erwählen wird, um dort Seinen Namen thronen zu lassen: den Zehnten deines Korns, deines Mostes und deines Öls und die Erstgeborenen deiner Rinder und Schafe, auf dass du es lernst, den Ewigen, deinen Gott, allezeit zu fürchten. (Dewarím 14:22-23)

Diese Verse werfen eine Schwierigkeit auf. Wir sollen diesen Zehnten, den מַעַשֶׂר שֵׁנִי (zweiten Zehnten)1, absondern und ihn לִפְנֵי ה’ בַּמָּקוֹם אֲשֶׁר־יִבְחַר, d.h. in Jerusalem, essen, in der Stadt des Béjt ha-Mikdásch (des Tempels). Der Zehnte musste in טָהֳרָה, ritueller Reinheit (vgl. S. 249ff) gegessen werden, und typischerweise tat man das im Rahmen eines festlichen, feierlichen Mahls mit vielen Gästen. Ein solches Ereignis festigte Freundschaften und brachte Freude. Man könnte also meinen, dass es der Zweck dieser Mizwá war, Gefühle der Dankbarkeit gegenüber unserem Schöpfer zu wecken, der uns die Erntefülle gegeben hat, die wir einsammeln. Es könnte auch sein, dass sie uns zu einer höheren Stufe von קְדוּשָׁה, von Heiligkeit, bringen soll. Sicherlich sind das wichtige und erstrebenswerte Aspekte dieser Mizwá. Die Torá betont sie aber nicht, sondern sagt stattdessen, dass uns diese Mizwá dazu verhelfen soll, „den Ewigen, deinen Gott, allezeit zu fürchten“.

Wie erreicht man יִרְאַת שָׁמַיִם – Gottesfurcht -, indem man eine Mahlzeit isst? Tossafót, Nachmanides und Raschbam erklären überein­stimmend, dass nicht das Essen als solches die Gefühle der Ehrfurcht steigert, sondern vielmehr die Tatsache, dass man in der Nähe des Tempels isst. Nicht allein das Gebäude und die Heiligkeit des Ortes tragen dazu bei, sondern auch, dass man beobachten kann, wie Kohaním, Leviím und Israeliten den Tempeldienst verrichten und die diesbezüglichen Gebote genau einhalten. Die Nähe zum Sanhedrín, die Begegnung mit Torágelehrten und das Torálernen mit ihnen helfen uns ebenfalls, uns die Gegenwart Gottes bewusster zu machen.

Leider können wir heute die Mizwá, מַעַשֶׂר שֵׁנִי zu essen, nicht mehr erfüllen. Wir sehen nicht mehr Kohaním, Leviím und Israeliten beim Tempeldienst, wir können nicht mehr Mitgliedern des Sanhedrín begegnen und mit ihnen Torá lernen. Aber wir können immer noch lernen, unseren Tisch und unsere Mahlzeiten zu mehr zu machen als den Ort, an dem wir essen und lokale Neuigkeiten austauschen.

Unsere häuslichen Tische können eine Quelle von Weisheit und יִרְאַת שָׁמַיִם sein, wenn wir zum Torálernen anregen und daran teilnehmen, wenn wir bei Tisch Dankbarkeit und Liebe zu Gott ausdrücken, wenn wir bei jeder Mahlzeit Diwréj Torá sagen, wenn wir nicht nur am Schabbat, sondern bei jeder Mahlzeit Segenssprüche über die Speisen sagen. Dann sind unsere Tische nicht mehr nur Tische aus Holz oder Metall, sondern wahre Altäre, auf denen das heiligste Feuer von Torá und Gottesfurcht brennt. Möge es uns gelingen, das zu tun und unsere Esszimmer in jüdische Räume voller Wärme und Innigkeit zu verwandeln.

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Paraschát Re’é,
25. Aw 5766 (19. August 2006)

1Der erste Zehnte wurde den Leviím gegeben. Der zweite Zehnte wurde im 1., 2., 4. und 5. Jahr des 7-jährigen Schemittá-Zyklus von den Eigentümern in Jerusalem gegessen, aber im 3. und 6. Jahr den Armen gegeben.

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