Würdiger Gruss

Deutsch

ה’ בְּמִשְׁפָּט יָבוֹא עִם־זִקְנֵי עַמּוֹ וְשָׂרָיו וְאַתֶּם בִּעַרְתֶּם הַכֶּרֶם גְּזֵלַת הֶעָנִי בְּבָתֵּיכֶם:

HaSchèm [Gott als der Barmherzige] geht ins Gericht mit den Ältesten Seines Volkes und dessen Fürsten, und ihr habt den Weinberg abgeweidet, der Raub vom Armen ist in euren Häusern. (Jescha‘jáhu 3:14)

Der Prophet klagt uns an … Wir haben nicht nur die Schwachen und Machtlosen im Stich gelassen, wir haben nicht nur den metaphorischen Weinberg unbewacht gelassen, wir haben ihn zerstört (וְאַתֶּם בִּעַרְתֶּם הַכֶּרֶם), und der gestohlene Besitz der Armen befindet sich in unseren Häusern. Was ist das für ein gestohlener Besitz des armen Mannes, von dem der Prophet Jescha‘jáhu spricht? Was könnte denn der Reiche von den Dingen, die dem Armen gehören, gestohlen haben? Würde irgendjemand sich die Mühe machen, die Lumpen des Armen, seine dreckige, zerrissene Kleidung zu stehlen? Sein Bettzeug und das quietschende Bett, wenn er überhaupt eines hat? Um welchen Besitz könnte man den Armen denn beneiden?

Nach dem talmudischen Weisen Raw Huna (s. Talmúd Bawlí Berachót 6b) beklagt Jescha‘jáhu nicht den Diebstahl von materiellen Gütern, weil der Arme keine hat. Vielmehr wendet sich der Prophet gegen den Diebstahl von etwas, was viel mehr Bedeutung hat als das Materielle, nämlich die persönliche Würde des Einzelnen. Rabbi Chelbó lehrte im Namen von Raw Huna, dass man sich bemühen sollte, einen anderen Menschen zu grüssen, ehe man selbst gegrüsst werden kann, entsprechend dem Vers בַּקֵּשׁ שָׁלוֹם וְרָדְפֵהוּ ‘suche den Frieden und jage ihm nach’ (Tehillím 34:15). Wenn man aber dieser Verpflichtung ausweicht und nicht einmal den Anstand hat, einen Gruss zu erwidern, wird man wie ein Dieb: גְּזֵלַת הֶעָנִי בְּבָתֵּיכֶם ‘der Raub vom Armen ist in euren Häusern’.

Der Arme besitzt nichts – ausser seiner Würde und Integrität. Indem man seinen Gruss nicht erwidert, stiehlt man, nimmt dem Armen seine Würde und zerstört sie. Aus welchem Grund?! Warum sollte jemand den Gruss eines Armen nicht erwidern? Natürlich, weil der Reiche hochmütig ist und in guter Gesellschaft sein will. Man kann doch einen Reichen verstehen, der die Suppenküche unterstützt und die Armen ernährt, aber seine sozialen Kontakte nur mit Seines­gleichen haben möchte, mit Menschen von hohem Sozialstatus. Dieser Stolz, der auf dem gesellschaftlichen Ausschluss anderer beruht, ist wie etwas, was man den Schwachen entwendet hat: גְּזֵלַת הֶעָנִי בְּבָתֵּיכֶם. Wenn man den matten Gruss der Mittellosen und Verzweifelten ignoriert, stiehlt man ihnen ihre Würde: גְּזֵלַת הֶעָנִי בְּבָתֵּיכֶם.

Es mag uns übertrieben vorkommen, einen nicht erwiderten Gruss als Diebstahl zu interpretieren, denn das Grüssen scheint doch nichts Besonderes zu sein. Aber dieses Missverständnis klärt sich auf, wenn wir einen Augenblick über die Bedeutung des Grüssens nachdenken. Wandeln wir die Frage nur ein wenig ab. Warum fällt es Menschen so schwer, gewisse andere Menschen zu grüssen? Was hindert den hypothetischen Re’uwén daran, dem hypothetischen Schim‘ón Gutes zu wünschen? Wie schwer kann es sein, die Worte „guten Morgen“, „wie geht’s“ oder „einen schönen Tag“ zu sagen? Natürlich ist es überhaupt nicht schwierig, sie auszusprechen, aber ist schwer, dem anderen den darin enthaltenen Wunsch zu gönnen und Interesse an ihm zu zeigen.

Das Grüssen besteht nicht nur darin, dass man mit den Stimmbändern und dem Mund einen Luftstrom zu bestimmten Wörtern formt. Bevor man überhaupt den Gruss ausspricht, muss man bereit sein, sich jemand anderem zu öffnen – jemandem, der vielleicht ein Fremder ist. Grüssen bedeutet, sich zu öffnen und sich damit verletzbar zu machen. Wie wird der andere auf meinen Gruss reagieren? Wird er ihn positiv aufnehmen? Wird er ihn zu schätzen wissen? Oder werde ich abgewiesen? Grüssen ist im Wesentlichen ein Geben. Man gibt dabei kein Geld, keine materiellen Dinge, sondern ein viel grösseres Geschenk, die eigene Person. Wenn wir mit anderen kommunizieren, geben wir ihnen ein Gefühl von Würde. Barrieren werden über­wunden, und die Gleichheit aller Menschen wird deutlich.

Leider beruht die Selbstachtung und Würde vieler Menschen darauf, dass sie andere ausschliessen. Die anderen sind nicht würdig genug, zu ihrem Freundes‑ und Bekanntenkreis zu gehören, es schickt sich nicht für sie, Umgang mit einer „anderen Sorte“ von Menschen zu pflegen. Man kann sich hundert Rechtfertigungen dafür einfallen lassen, andere auszuschliessen, aber letztlich ist es viel gravierender, eine solche Ausgrenzung zu praktizieren, als vermeintlich im Status zu sinken, weil man sich mit den Schwächsten abgibt.

Unsere Torá verlangt, dass wir die Armen mehr als nur finanziell unterstützen.

יוֹסִי בֶּן יוֹחָנָן אִישׁ יְרוּשָׁלַיִם אוֹמֵר, יְהִי בֵיתְךָ פָתוּחַ לִרְוָוחָה, וְיִהְיוּ עַנִיִים בְּנֵי בֵיתֶךָ.

Jossí ben Jochanán aus Jeruschalájim sagt: Es möge dein Haus stets weit geöffnet sein, und die Armen mögen deine Haus­genossen sein. (Mischná Pirkéj Awót 1:5)

Auch hier geht es darum, sich um die Würde der Armen zu bemühen. Wir werden hier nicht daran erinnert, dass wir sie grosszügig unterstützen sollen, sondern wir werden ermutigt, sie in unsere Familie aufzunehmen. Niemand soll in Einsamkeit oder Schande leben!

Dass Jossí ben Jochanán und Raw Huna um die Würde der Armen und Schwachen besorgt sind, ist keine Neuerung, sondern durchzieht die ganzen Halachót von Zedaká. Die Unterstützung, die wir den Armen und Unterdrückten gewähren, ist nicht so etwas wie ein Mindestlohn. Natürlich ist es eine gute Sache, allen Armen ein Minimum an Unterstützung zu geben, damit sie zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, und es ist sehr verdienstvoll, wenn eine Gesellschaft ein solches soziales Netz anbietet. Aber in der Halachá wird ein weiterer Schritt verlangt. Die Unterstützung, die wir den Armen geben, soll sich nach dem Lebensstandard richten, den sie früher gewohnt waren. Deshalb ist es viel verdienstvoller, ungelernten Arbeitslosen eine Stelle zu vermitteln, als ihnen direkt Geld zu geben.

Unsere Weisen haben den Begriff der Armut oft auf diverse unerfüllte Bedürfnisse ausgeweitet. So ist auch Einsamkeit eine Form von Armut, eine soziale Armut. Schauen wir uns um und prüfen wir uns selbst. Können wir vielleicht jemanden sehen, den wir seit einiger Zeit nicht gegrüsst haben oder vielleicht noch nie? Fällt uns jemand ein, den wir normalerweise nicht in unseren Kreis einschliessen? Nach dem Gebet stehen viele Leute draussen und reden – mit ihren Freunden, mit ihren Bekannten, mit denen, mit denen sie schon vorige Woche gesprochen haben und die Woche davor auch und die Woche davor auch. Gibt es vielleicht Leute, die nicht noch eine Weile bleiben, weil sie keine Gesprächspartner haben? Haben wir schon einmal an sie gedacht?

Nicht nur Einsamkeit ist Armut, sondern auch die Unfähigkeit, die Armut des anderen wahrzunehmen, ist selbst eine Art von Behinderung, eine Art von Armut in Geist und Seele. Vielleicht sind wir alle in dieser Hinsicht arm, aber es ist recht einfach, diesen Kreislauf der Armut zu durchbrechen. Wir müssen nur die Augen aufmachen und versuchen, aufeinander zuzugehen. Wir können uns umschauen – zwei, drei, vier Bänke auf jeder Seite – und sehen, dass da Menschen sitzen, die wir normalerweise nicht einschliessen. Wir können sie einschliessen, sie in unsere Gruppe aufnehmen, sie zu „Hausgenossen“ machen, und damit unsere eigene geistig-seelische Armut überwinden.

Seien wir objektiv und fragen wir uns, ob man sich in unserer grossen Synagoge verloren vorkommen kann. Könnte es vielleicht sein, dass viele sich durch die majestätische Architektur und die recht grosse Zahl von Menschen, die hierher kommen, ein klein wenig ein­geschüchtert fühlen? Könnte es sein, dass wir zuwenig Kontakt miteinander aufnehmen, zuwenig Beziehungen zu Einheimischen wie zu Fremden aufbauen, weil wir uns alle ein bisschen verloren fühlen bei dem Versuch herauszufinden, wer neu ist und wer nicht? Die Lösung für dieses soziale Dilemma ist nicht, sich in eine Ecke zurückzuziehen und während des ganzen Gebets mit seinen zwei oder drei Freunden zu reden und das nachher draussen fortzusetzen. Nein, um dieses soziale Problem zu lösen und unsere Armut zu überwinden, müssen wir noch mehr auf andere zugehen, als wir das in einem kleinen „Stibl“ tun würden (aber besser, ohne das Gebet damit zu unterbrechen – dafür treffen wir uns ja anschliessend zu einem Kiddúsch oder im Synagogenhof). Mehr, nicht weniger – das sollten wir in der IGB erwarten.

Unmittelbar nach der von Wundern begleiteten Offenbarung am Sináj, unmittelbar nach dem Bund der Zehn Worte, von dem Gott sagt, אַתֶּם רְאִיתֶם כִּי מִן־הַשָּׁמַיִם דִּבַּרְתִּי עִמָּכֶם ‘ihr habt gesehen, dass Ich vom Himmel herab mit euch geredet habe’ (Schemót 20:19), wendet sich Gott an Moschè mit der Anweisung: וְאֵלֶּה הַמִּשְׁפָּטִים אֲשֶׁר תָּשִׂים לִפְנֵיהֶם ‘das sind die Rechtsvorschriften, die du ihnen vorlegen sollst’ (Schemót 21:1).

Unter den vielen Rechtsvorschriften in dieser Paraschá finden sich auch die, die uns zu Zedaká auffordern. Das schliesst finanzielle Unterstützung ein, beschränkt sich aber nicht darauf. Ein wahrer Bá‘al Zedaká gibt von Herzen, aber er gibt auch sein Herz. Mögen wir alle in unserer Würde wachsen, indem wir anderen Juden das Gefühl von Würde vermitteln.

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Paraschát Mischpatím,
27. Schewát 5766 (25. Februar 2006)

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