Lasst uns ehrliche Verkäufer sein1
Was bedeutet es, jüdisch zu sein? Ist das Judentum eine Religion? Eine ethnische Gruppe? Eine Kultur? Diese Fragen sind in den letzten Jahren besonders schwierig geworden. Es gibt eine wachsende Zahl von Nichtjuden, die durch die „Grossvater-Klausel“ des israelischen Rückkehrgesetzes (die aus einer Gesetzesänderung von 1970 stammt) israelische Bürger wurden, und mittlerweile beträgt die Zahl der nichtjüdischen ‘Olím 300’000-500’000.2
Im Jahre 2006 wurden nur rund 940 nichtjüdische ‘Olím aus den GUS-Staaten ins Judentum aufgenommen. Bei diesem Tempo würde es 300 bis 500 Jahre dauern, sie alle aufzunehmen. Viele Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben Druck auf das israelische Oberrabbinat ausgeübt, um die Zahl der Gijurím, der Aufnahmen ins Judentum, zu erhöhen. Daher wurde auch der Wunsch geäussert, die Zahl der Dajaním zu erhöhen, die in Battéj Din le-Gijúr (rabbinischen Gerichten für die Aufnahme ins Judentum) tätig sind. Solche Wünsche sind legitim. Mehr Personal würde das Oberrabbinat effzienter machen, das wie alle anderen staatlichen Behörden und wie ähnliche Institutionen in Israel für seine enorme Bürokratie bekannt ist. Es ist aber die Frage, ob tatsächlich ein so grosser Bedarf an Gijurím besteht. Im Jahre 2006 nahmen nur etwa 2500 Nichtjuden aus den GUS-Staaten an Kursen zur Vorbereitung auf einen Gijúr teil.3
Politiker und andere Persönlichkeiten werfen dem Oberrabbinat auch vor, zu streng zu sein, und verlangen schnellere und weniger anspruchsvolle Gijurím. In einer neueren Untersuchung zu nichtjüdischen russischen ‘Olím im Auftrag des Ministeriums für die Integration von Immigranten sagten 70% der Befragten, nach ihrem Eindruck sei es das Ziel des Gijúrs, sie „religiös“ und nicht nur jüdisch zu machen.4 Aha! Das wird also dem rabbinischen Establishment vorgehalten: Wie können es die Rabbiner wagen, von denen, die ins Judentum aufgenommen werden, religiöse Observanz zu erwarten?
Die Anforderungen an einen Gijúr sind – wie so viele andere zentrale Grundsätze und Rituale des Judentums – nicht einfach dem biblischen Text zu entnehmen. Die Details stehen schon dort, aber wir können sie nur verstehen, wenn wir die Torá sche-bi-Chtáw (das schriftliche Gesetz) in Kenntnis der Torá sche-be-‘al-Pè (des mündlichen Gesetzes) lesen.5 Megillát Ruth, das Buch Ruth, das in der ganzen jüdischen Welt üblicherweise am zweiten Tag Schawu‘ót gelesen wird,6 lehrt uns durch die Geschichte von Ruth einige der wesentlichen Anforderungen an eine Aufnahme ins Judentum.
Na‘omí versucht mehrfach, ihre beiden verwitweten Schwiegertöchter davon abzuhalten, sich dem jüdischen Volk anzuschliessen.7 Ruth und ‘Orpá müssen aber schon recht viel über das Judentum gewusst haben. Schliesslich hatten sie jahrelang in einer jüdischen Familie gelebt und hatten ausserdem eine fromme Schwiegermutter. Trotzdem versucht Na‘omí, Ruth von einem Gijúr abzubringen, bis sie eine bedeutende Verpflichtung eingeht („dein Volk ist mein Volk“ usw.). Die wunderschöne Rede, in der Ruth darauf besteht, bei Na‘omí zu bleiben, stellt nach dem Talmúd eine Reihe von Antworten auf Fragen von Na‘omí dar.8 Erst als Ruth alles akzeptiert, womit Na‘omí sie konfrontiert, hört Na‘omí auf, Ruth wegzuschicken, und heisst sie willkommen (Ruth 1:18).
Nun sagen Sie mir mal – kann man sich dem jüdischen Volk anschliessen, ohne das „Joch der Mizwót“ auf sich zu nehmen? Die Selbstverpflichtung auf die Mizwót ist doch gerade – wie der Talmúd überliefert – das, was עַמֵּךְ עַמִּי ‘dein Volk ist mein Volk’ bedeutet!
Wir müssen also zu dem Ergebnis kommen, dass das Oberrabbinat völlig recht hat, wenn es von Gerím erwartet, dass sie die Mizwót halten. Das heisst natürlich nicht, dass die Vorbereitung auf einen Gijúr in den Kursen, die in Zusammenarbeit mit dem Immigrationsministerium durchgeführt werden, völlig in Ordnung ist. Es gibt Probleme. Und das grösste Problem ist, dass nicht alle Gijurím, die anschliessend stattfinden, auch gültig sind.
Was?! Nicht alle Gijurím sind gültig? Wieso denn nicht? Die Halachá sagt unmissverständlich, dass eine der unerlässlichen Vorbedingungen für einen Gijúr die Annahme des „Jochs der Mizwót“ ist. Das bedeutet also, dass jemand, der an einem Vorbereitungskurs teilnimmt und den verlangten Stoff bestens beherrscht, aber keine Absicht hat, die Mizwót zu halten, keinen gültigen Gijúr machen kann.9 Nehmen wir einmal an, dass wir drei der bedeutendsten Rabbiner der Welt gewinnen konnten und dass es einem Kandidaten gelingt, dieses illustre Gericht zu der Überzeugung zu bringen, dass er es ehrlich meint. Wenn er selbst sehr wohl weiss, dass er nicht die Absicht hat, die Mizwót zu halten, kann er nicht rechtsgültig ins Judentum aufgenommen werden. Wenn aus irgendeinem Grund erst dreissig Jahre nach diesem unechten Gijúr jemand merkt, dass etwas nicht stimmt, ist der Gijúr immer noch absolut ungültig, trotz der schönen Unterschriften der bedeutendsten Rabbiner. Wenn eine solche Unaufrichtigkeit nach Jahren entdeckt wird, verursacht das dem Ger und seiner Familie viel Leid.
Der Druck, der auf das Oberrabbinat ausgeübt wird, damit es seine Ansprüche herunterschraubt, und die falsche Vorstellung, die im Raum schwebt, dass man zwischen „jüdisch werden“ und „Mizwót halten“ unterscheiden könne, lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass die gegenwärtigen Kurse in Israel den Gijúr-Kandidaten sogar nahelegen, die Mizwót nicht zu halten, wenn sie erst einmal jüdisch sind. Einige Leute in mit dem Immigrationsministerium verbundenen Institutionen machen genau das tatsächlich. Wenn dann in einigen Jahren die Wahrheit herauskommt, wird es Kinder geben, die erfahren müssen, dass sie gar nicht jüdisch sind, und Gerím, die begreifen werden, dass diejenigen, die leichtere Gijurím fordern, und die Dajaním, die ein Auge zudrücken, den Gijúr-Kandidaten einen schlechten Dienst erweisen und eine Tragödie vorprogrammieren.
Was würden wir von einem Gebrauchtwagenhändler halten, der aggressiv Autos verkauft, die nach 1000 Kilometern zusammenbrechen? Verbraucherorganisationen würden durch Gerichtsverfahren dafür sorgen, dass er nicht mehr im Geschäft bleibt. Die irreführenden Taktiken von Beamten und Politikern sollten wir uns genauso wenig gefallen lassen.
Indem die Jewish Agency (Sochnút) aggressiv versucht hat, Nichtjuden für die ‘Alijá zu gewinnen, hat sie ein riesiges Durcheinander geschaffen. Die Situation hat sich derart verschlimmert, dass in den letzten Jahren von manchen nichtjüdischen ‘Olím Kirchengemeinden gegründet wurden, da sich viele von ihnen gar nicht jüdisch fühlen. Die Sochnút kann nicht erwarten, dass die Halachá und das Oberrabinat dieses von ihr produzierte Durcheinander nun aufräumen.
Es gibt aber eine Möglichkeit für diejenigen, die sich für das Judentum interessieren, es richtig zu machen:
Maya Nahor erfuhr von einem israelischen Beamten, dass sie nicht jüdisch war. Sie war 19 Jahre alt und war gerade aus Spanien nach Tel Aviv gekommen. Es war das erste Mal, dass sie von ihrer Familie getrennt war. Nahors Vater wurde in Israel geboren, ihre Mutter in Deutschland. In der Schule hatte sie unter Antisemitismus gelitten, und sie hatte davon geträumt, dieser rauhen Welt zu entrinnen und in das mythische Land ihrer Vorfahren zu ziehen: Israel. Dort erfuhr sie, dass man nur dann jüdisch ist, wenn man von einer jüdischen Mutter geboren oder gemäss der Halachá ins Judentum aufgenommen worden ist. Daher erklärte ihr der Beamte, dass auf ihrer Identitätskarte „deutsch“ stehen würde, weil ihre Mutter Deutsche war. Nicht „jüdisch“. Nicht einmal „spanisch“.
Nahor liess sich nicht entmutigen. Sie blieb und ging in die Armee. Dann nahm sie an dem 2001 geschaffenen Nativ Jewish Zionist Identity Program teil , das eine intensive Vorbereitung auf einen Gijúr anbietet. Nach mehreren Semestern beschloss sie, jüdisch zu werden. [UPDATE: Ich habe keinen Kontakt mit dieser Organisation gehabt; sie ist mir nur aus den hier erwähnten Quesllen bekannt. Als ich Sommer ’08 an einer Konferenz in Israel teilnahm, vernahm ich, dass auch Programme, die eine Alternative zum sgn. Maarakh haGijur bilden, nicht kontroverlos sind. Caveat Emptor!]
Nahor betrachtet sich als orthodox und meint, dass sie mehr über das Judentum weiss als die meisten ihrer Freunde, die [von Geburt] jüdisch sind. Sie strahlt eine Unverwüstlichkeit aus, die zur Hoffnung inspiriert. Vielleicht hat der israelische Beamte Nahor unbeabsichtigt ein Geschenk gemacht. Es war eine Herausforderung, das Erbe, das sie schon für das ihre hielt, kennenzulernen und anzunehmen, und sich ihren Platz in der Welt zu erarbeiten.10
Maya Nahor ist kein Einzelfall. Alle, die eine Aufnahme ins Judentum erwägen, und alle, die einen Gijúr brauchen, ohne es zu wissen, sollten wahrheitsgemäss informiert werden. Sie (und auch diejenigen, die schon jüdisch geworden sind) sollten unsere volle Unterstützung darin bekommen, das jüdische Leben ernst zu nehmen und die Halachá zu befolgen.
Wir können aber noch einen Schritt weiter gehen. Der Talmúd erklärt, dass wir alle Nachfahren von Gerím sind (Talmúd Bawlí Jewamót 45b): Bei der Offenbarung am Sináj sind wir alle auf ganz ähnliche Weise wie die späteren Gerím in den Bund mit Gott aufgenommen worden. Die Annahme der Torá am Sináj war in gewisser Weise eine gigantische Gijúr-Zeremonie. Wir sollten uns daher zu Herzen nehmen, dass von einem Ger nicht mehr verlangt wird als von irgendeinem anderen Juden – oder vielmehr, dass von jedem einzelnen von uns nicht weniger erwartet wird als von einem Ger. Wir sollten die aufrichtigen Gerím nicht nur unterstützen, sondern auch von ihnen lernen.
Fussnoten
1Predigt zum 1. Tag Schawu‘ót 5767 (23. Mai 2007)
2Hintergrundinformationen findet man z.B. unter http://judaism.about.com/library/3_askrabbi_sijs/bl_3_whoisajew.htm, http://foundation1.org/wp en/2002/01/01/the-jewish-state-and-the-law-of-return-2/ sowie in Rosenblum, Jonathan, “Think Again: Rabbis are not pooper-scoopers”, Jerusalem Post, 19. April 2007.
3Vgl. Evan R. Goldstein, “The Power of the Gatekeepers: The diffculty of converting to Judaism in Israel”, Wall Street Journal, 13. April 2007
4Haviv Rettig, “Gov’t panel may alter conversion policy”, Jerusalem Post, 25. März 2007
5So kann man nicht wissen, wie Tefillín aussehen oder wie man ein Tier schächtet, wenn man sich nur auf die geschriebene Torá stützt und die mündliche Torá ausschliesst.
6In Israel wird Megillát Ruth natürlich an dem einzigen Tag Schawu‘ót gelesen. Seltsamerweise liest man dieses Buch in der Synagoge der Israelitischen Gemeinde Basel überhaupt nicht, und es gibt keinen überzeugenden Grund für die Annahme, dass das ein echter Minhág ist. Höchstwahrscheinlich ist es ein Fehler. Ist der wahre Grund dafür vielleicht, dass wir mit dem Gebet gerne früher fertig werden wollen?
7Sie sagt zunächst: „Geht, kehrt um, jede zum Haus ihrer Mutter! Möge der Ewige an euch Gutes tun, so wie ihr an den Verstorbenen und mir getan habt. Möge der Ewige euch gewähren, dass ihr Ruhe findet, jede im Haus ihres Mannes!“ (Ruth 1:8-9). Nachdem die beiden Frauen dennoch mit ihr gehen wollen, wiederholt sie: „Kehrt um, meine Töchter, warum wollt ihr mit mir gehen?“ (1:11). Dann sagt sie noch einmal zu Ruth: „Sieh, deine Schwägerin ist heimgekehrt zu ihrem Volk und ihrem Gott, kehr um, deiner Schwägerin nach.“ (1:15)
8Na‘omí: Uns ist der Techúm Schabbát verboten! [Es ist verboten, an Schabbat und Jom Tow weiter zu gehen als ca. 1 km über das zusammenhängende Wohngebiet hinaus, die sog. Schabbatgrenze. In einer grossen Stadt wie Basel ist das leicht einzuhalten, aber es kann ein Problem werden, wenn man in einem kleinen Ort Ferien macht.]
Ruth: אֶל־אֲשֶׁר תֵּלְכִי אֵלֵךְ ‘wo du hingehst, da will ich auch hingehen’ (Ruth 1:16).
Na‘omí: Uns ist Jichúd verboten! [Die sozialen Beziehungen zwischen Männern und Frauen unterliegen besonderen Vorschriften. So darf ein Mann nicht mit einer Frau allein sein.]
Ruth: וּבַאֲשֶׁר תָּלִינִי אָלִין ‘wo du übernachtest, da will ich auch übernachten’ (ebd.).
Na‘omí: Uns sind 613 Pflichten befohlen worden!
Ruth: עַמֵּךְ עַמִּי ‘dein Volk ist mein Volk’ (ebd.).
Na‘omí: Uns ist Götzendienst verboten!
Ruth: וֵא־לֹהַיִךְ אֱ־לֹהָי ‘dein Gott ist mein Gott’ (ebd.).
Na‘omí: Vier Formen der Todesstrafe sind dem Gericht übergeben worden! [Das Sanhedrín hat die Befugnis, bestimmte Arten von Sündern mit der Todesstrafe zu bestrafen. Es verhängt je nach der begangenen Sünde vier verschiedene Formen der Todesstrafe.]
Ruth: בַּאֲשֶׁר תָּמוּתִי אָמוּת ‘wo du stirbst, will auch ich sterben’ (1:17).
Na‘omí: Zwei Begräbnisplätze sind dem Gericht übergeben worden! [Diejenigen, die vom Sanhedrín hingerichtet werden, werden je nach der begangenen Sünde auf zwei verschiedenen Begräbnisplätzen begraben.]
Ruth: וְשָׁם אֶקָּבֵר ‘und dort will auch ich begraben sein’ (ebd.).(Talmúd Bawlí Jewamót 47b)
9Siehe Siftéj Kohén (Schach), Jorè De‘á 268:9
10Susan Freudenheim, “An inadvertent gift”, Jewish Journal of Los Angeles, 27. April 2007