Torá und Vergebung im Dienst der Einheit

Jom Kippúr ist der Höhepunkt eines vierzigtägigen Prozesses, der mit Rosch Chódesch Elúl begonnen hat. Diese Tage sind voller symbolischer Bedeutung.

Wie Sie wahrscheinlich wissen, kommt die Zahl vierzig in der schriftlichen und mündlichen Torá recht oft vor:

  • Unsere Vorfahren mussten nach der Sünde der Kundschafter vierzig Jahre durch die Wüste wandern, ehe sie ins Land Israel einziehen durften.
  • Vierzig Tage vor der Zeugung eines Kindes verkündet eine himmlische Stimme, wen es heiraten wird.
  • Eine Mikwè1 muss mindest vierzig Se’á Wasser (üblicherweise ca. 600 Liter) enthalten.
  • Nachdem sich Gott am Berg Sináj offenbart und auf der Basis der Zehn Worte einen Bund mit ganz Israel geschlossen hatte, stieg Moschè auf den Berg und blieb dort vierzig Tage.
  • Am Ende dieser vierzig Tage bekam Moschè die Bundestafeln für das Volk Israel. Als er sah, wie unsere Vorfahren mit dem Goldenen Kalb sündigten, zerschlug er die Tafeln, fing aber sofort an, vierzig Tage lang dafür zu beten, dass Gott Seinem Volk diese schreckliche Sünde vergeben möge.2
  • Nachdem Gott Moschès Bitten erhört hatte, stieg Moschè noch einmal auf den Berg und erhielt im Verlauf von vierzig Tagen die Torá erneut, mit neuen von Gott geschriebenen Bundestafeln.

Was entspricht den vierzig Tagen der Teschuwá (Umkehr)? Welche Symbolik steckt in ihnen? Raschi zeigt, dass Moschès letzter Aufstieg auf den Berg Sináj an Rosch Chódesch Elúl begann. Der Tag, an dem er mit den zweiten Bundestafeln zurückkam, der vierzigste Tag seines Aufenthalts auf dem Berg, der Tag, an dem Gott zeigte, dass Er das Volk Israel liebte und ihm für die Sünde des Goldenes Kalbs verziehen hatte – dieser Tag war Jom Kippúr (Raschi, Schemót 33:11). R’ Schelomó Ganzfried deutet im Kizzúr Schulchán Arúch, dem bekannten halachischen Handbuch für den jüdischen Alltag, an, dass Gott uns das Gebot von Jom Kippúr erst danach schenkte (128:1), so dass es erst im folgenden Jahr wirksam wurde. Dass wir Jom Kippúr haben, kommt also daher, dass wir die zweiten Luchót (Bundestafeln) angenommen haben. Deshalb hat dieser Tag das Potential, eine Wiederholung jenes schicksalsträchtigen Tages zu werden, an dem Gott sogar die abscheuliche Sünde des Götzendiensts vergab.

Dass Gott unseren Vorvätern die Sünde des Goldenen Kalbs verzieh, ist auch ein wichtiger Beleg dafür, dass Gott für das Volk Israel Einheit wünscht. Sogar den Götzendienern und ihren Unterstützern verzieh Er, nachdem sie ihre Sünde ernsthaft bereut hatten. Man spürt, dass die Ganzheit von Kelál Jissra’él so wichtig ist, dass sie selbst schon einen Appell an Gottes Vergebung darstellt – für alle von uns, die das wünschen.

Diese Einheit findet ihren Ausdruck in der Beziehung zwischen Mensch und Gott und natürlich auch zwischen Mensch und Mensch. Einheit gibt es nicht in einem Vakuum, ohne jeden Zusammenhang. Unsere Einheit entsteht aus vielen einander ergänzenden Faktoren, die Gott in unsere Geschichte eingewoben hat. Wir haben ein gemeinsames Erbe und in sehr hohem Mass eine gemeinsame Bestimmung. Wir teilen auch sprachliche und kulinarische Traditionen. Wir haben einen gemeinsamen Zweck in Gottes Schöpfung, und unsere Einheit wird dadurch unterstrichen, dass wir die Bundestafeln bekommen und angenommen haben, den Bund der Torá. Die Torá ist nicht nur ein spirituelles Dokument, nicht „nur“ das Wort Gottes, sondern auch ein wesentlicher Faktor in der Einheit von Kelál Jissra’él, in unserer Einheit. Ohne Torá – den Behälter unserer gemeinsamen Werte, unseres Bundes mit Gott – ist unsere Einheit geschwächt und sogar gefährdet. Dieses Prinzip wird, wie wir gesehen haben, in der Verbindung zwischen Jom Kippúr und den Luchót ausgedrückt.

Viele der Mizwót der Torá betreffen nicht nur den geistigen oder den rituellen Bereich, sondern auch den zwischenmenschlichen. Als einen wichtigen Faktor in unserer Einheit strebt die Torá eine praktische, verwirklichte Einheit des jüdischen Volkes an. Sie will eine Einheit, die nicht nur auf der nationalen Ebene existiert, sondern auch auf der lokalen, auf der Ebene der Gemeinde – denn Einheit wird in den Beziehungen zwischen Individuen aufgebaut.

Die miteinander verbundenen Quellen von Einheit – Jom Kippúr und die Luchót – verlangen, dass wir besonders auf unser zwischen­menschliches Verhalten achten und auf die Lektionen, die uns unsere heilige Torá in diesem Bereich lehrt. Deshalb halte ich es für angebracht, ein besonders schlimmes soziales Muster und den Schaden, den es der Einheit zufügt, zu analysieren.

Eine recht häufige gesellschaftliche Praxis, die man meist am Arbeitsplatz beobachten kann, aber auch in vielen anderen Zusammenhängen, gelegentlich auch in unserer Gemeinde, sind Belästigungen und Schikanen der Art, die man heute Mobbing nennt. Aus irgendeinem Grund wird ein Mensch zur Zielscheibe für die Bosheiten eines anderen. Manchmal ist das völlig unberechtigt, manchmal lässt sich dafür mit verdrehten Gedankengängen, wie sie normale Menschen manchmal haben, irgendeine Rechtfertigung finden. Besonders schlimm ist es, dass diese Schikanen oft hinten­herum praktiziert werden. Da zeigt sich jemand gegenüber dem Opfer nett und höflich und sichert ihm seine Unterstützung zu, aber hinter seinem Rücken tut er alles, um dem Opfer das Leben zu verleiden oder es an Erfolgen zu hindern.

Was die Torá davon hält, sagen die Verse לֹא תֵלֵךְ רָכִיל בְּעַמֶּיךָ, לֹא תַעֲמֹד עַל דַּם רֵעֶךָ ‘du sollst nicht als Verleumder in deinem Volke herumgehen; bleibe nicht untätig bei der Lebensgefahr [wörtlich: beim Blut] deines Nächsten’ (Wajikrá 19:16) und אָרוּר מַכֵּה רֵעֵהוּ בַּסָּתֶר ‘verflucht sei, wer seinen Nächsten heimlich schlägt’ (Dewarím 27:24).

Machen wir uns nichts vor. Mobbing gibt es nur, wenn die Zuschauer es dulden, nur wenn der Mobber davon befreit wird, ungute Gefühle zu haben. Ein solches Verhalten verletzt viele Regeln der heiligen Torá und ist abstossend. Es hat in keiner gesellschaftlichen Gruppe einen Platz, und schon gar nicht in einer Gemeinde, die Liebe und Freundschaft anstrebt.

Mobbing wird oft damit gerechtfertigt, dass man irgendeine Notwendigkeit sieht, gegen das Opfer vorzugehen. Sehr passend ist das, was Rabbi Lewi Jizchak von Berditschew der Überlieferung nach gesagt hat: „Ich hasse die Mizwót der Welt, und ich liebe die ‘Awerót (Sünden) der Welt. Menschen sagen oft, es sei eine Mizwá, eine bestimmte Person zu tyrannisieren, oder es sei eine Sünde, einem bestimmten Menschen zu helfen. Solche Mizwót hasse ich, und solche Sünden liebe ich.“ Rabbi Lewi Jizchak liebte die Mizwót Gottes, aber wir Menschen sind in Gefahr, neue und falsche „Mizwót“ zu erfinden.

Mobbing ist eine Art von Verletzung, die man fast nicht mehr gutmachen kann. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, welchen sozialen Schaden es anrichtet. Wir sollten uns nicht nur selbst davor hüten, Mobbing zu praktizieren, sondern uns auch allem Mobbing entgegenstellen, selbst wenn es von guten Freunden oder Arbeitskollegen ausgeht. Mit einer solchen absoluten Ablehnung von Mobbing, ob gegen Juden oder Nichtjuden, leisten wir unseren Freunden und Kollegen sogar einen guten Dienst.

Einmal kam ein Mann zu einem Rabbiner, um darüber zu sprechen, wie leid es ihm tat, jemanden verleumdet zu haben. Er suchte nach einer Möglichkeit der Sühne. Der Rabbiner ging mit ihm in den Hof und bat ihn, ein Kissen mit Gänsefedern mitzunehmen. Zusammen stiegen sie auf einen nahegelegenen windigen Hügel. Als sie oben waren, forderte der Rabbiner den Mann auf, das Kissen aufzureissen. Der Mann war verblüfft. Wie sollte ihm das bei seiner Suche nach Sühne helfen? Trotzdem befolgte er die Aufforderung des Rabbiners. Die beiden standen einige Minuten still. Langsam wurden die Federn vom Wind hochgehoben und weit weg getragen. Plötzlich sagte der Rabbiner: „So kannst du Sühne finden: Du musst alle Federn einsammeln und wieder in das Kissen stecken.“ „Aber das ist doch unmöglich“, antwortete der Mann, „der Wind hat die Federn über alle Felder hinweg getragen!“ „Dann denke einmal nach. Als du deine verleumderischen Worte losgelassen hast, haben sie sich überall hin verbreitet. Kannst du danach deine Worte noch wieder zurück­nehmen?“

Um Vergebung zu suchen und zu finden, müssen wir uns unter anderem klar machen, wie viel Schaden unser Verhalten manchmal anrichtet. Wenn wir das richtige Gespür dafür haben, werden unsere Äusserungen reiner sein, unsere Lippen unschuldiger, unsere Freund­schaften stabiler. Die Torá gibt uns die Mittel, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Zusammen, in Einheit und Freundschaft, in wahrhaftiger gegenseitiger Anerkennung werden wir von einander und von Gott Verzeihung erbitten. An diesem Tag, der vom Geist der Einheit und Nächstenliebe und vom Bedauern für unsere Fehler geprägt ist, wird Gott uns sicherlich vergeben, und wir werden aus diesem Tag als eine liebevollere, vollkommenere Gemeinde hervorgehen.

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Kol Nidréj,
Jom Kippúr 5767 (1. Oktober 2006)

1Ein rituelles Bad, das mit Regenwasser gefüllt ist oder aus einer Quelle gespeist wird.

2Die Kommentatoren sind uneins darüber, ob Moschè diese vierzig Tage des Gebets auf dem Berg oder im Lager verbrachte; s. Ramban (Nachmanides) z.St.

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