Kleine und grosse “Tzores”

DeutschAls Moschè Rabbénu während der Offenbarung am brennenden Busch Gott nach Seinem Namen fragte, antwortete Er ihm mit einem Namen, der erklärt wird als ‘Ich werde in diesem Exil – in Ägypten – mit dem Volk sein und Ich werde in zukünftigen Zeiten des Exils mit ihm sein’ (s. Schemót 3:13-14 mit Raschi). So wurde das Exil in Ägypten zum Modell für alle späteren Zores (Plural von jiddisch zore ‘Leid, Not, Schwierigkeit, Sorge’, zu hebräisch zará) des Volkes Israel. Wenn wir auf einen der Bünde mit Awrahám zurückschauen, den Berít bejn ha-Betarím, dann verstehen wir, dass Exil und Zores im Allgemeinen ein Teil unserer Existenz sind, denn damals sagte Gott zu Awrahám:

יָדֹעַ תֵּדַע כִּי־גֵר יִהְיֶה זַרְעֲךָ בְּאֶרֶץ לֹא לָהֶם וַעֲבָדוּם וְעִנּוּ אֹתָם אַרְבַּע מֵאֹות שָׁנָה […]

Du sollst wissen, dass deine Nachkommen Fremdlinge sein werden in einem Lande, das ihnen nicht gehört; sie werden ihnen dienen müssen, und man wird sie bedrücken, vierhundert Jahre lang […]. (Bereschít 15:13)

Die mehr als ein Jahrhundert dauernde Versklavung in Ägypten war in gewissem Sinn einzigartig: Sowohl die Tiefe der Hoffnungslosigkeit als auch der Gipfel der Befreiung, als das Volk sieben Wochen nach dem Auszug am Fusse des Bergs Sináj stand, werden in anderen jüdischen Schreckenszeiten kaum erreicht; der Kontrast zwischen der Tiefe des Abgrunds und der Höhe des Gipfels ist umso bemerkenswerter.

Es gehört bestimmt zu der Liebe, die der Ewige dem Volk Israel erweist, dass unser Volk trotz schwierigster Erlebnisse bestehen bleibt und sich sogar durch die schrecklichen Erfahrungen stärkt.

Doch bleibt uns die ägyptische Erfahrung ein Modell. Die Heraus­forderung des Lebens ist nicht, ohne Zores zu leben, denn darüber haben wir kaum Kontrolle, sondern wie wir auf grosse und kleine Schwierigkeiten reagieren.

מעשה אבות סימן לבנים (Ma‘assè Awót Simán la-Baním) – die Erleb­nisse der Vorfahren sind ein Zeichen für die Nachkommen. Heute haben wir das Glück, in relativ ruhigen Zeiten zu leben, obwohl diese Ruhe manchmal etwas illusorisch ist, wie wir bei Brandstiftungen an Synagogen gelernt haben. Unsere relative Ruhe ist auch recht begrenzt, wenn unsere Beziehung zum Land Israel und die Sicherheit unserer Brüder und Schwestern in Israel nicht gewährleistet sind.

In unserer relativen Ruhe erleben wir aber auch kleine Zores in unserer eigenen Gemeinde. Die Herausforderungen sind bekannt: ein relativ grosses finanzielles Defizit (was aber für eine lebendige jüdische Gemeinde typisch ist) und ein Gefühl, unsere Gemeinde sei tief gespalten. Genau genommen, nehmen wir in unserer Gemeinde noch zahlreiche weitere Probleme wahr, aber wir scheuen uns, sie zu benennen, wie z.B. wachsende Indifferenz gegenüber der eigenen Identität und mangelnde Vertrautheit mit der eigenen Tradition und Geschichte, mit dem eigenem Gedankengut.

מעשה אבות סימן לבנים – wenn wir uns diesen Leitfaden der Vergangenheit zu eigen machen, dann können wir die düsteren Visionen unserer Zukunft vermeiden und einander in dieser Zeit stärken. Ignorieren wir diesen Leitfaden aber, dann riskieren wir, aus unseren düsteren Ahnungen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu machen.

Nicht alle Juden sind aus Ägypten ausgezogen. Von Raschi lernen wir, dass sogar die meisten es nicht geschafft haben. Dass sie zu wenig Interesse an der Erlösung hatten, führte dazu, dass sie das Los der Ägypter teilen mussten.

Heute, Tausende von Jahren später, gibt es zahlreiche erfolgreiche jüdische Institutionen: Jeschiwót, Seminare zur Ausbildung von Lehrerinnen, Lehrern und Rabbinern und andere jüdische Bildungseinrichtungen für Fortgeschrittene, Tagesschulen, Synagogen, Mikwa‘ót, Hilfsorganisationen usw. Selbst der mörderische Holocaust in Europa hat unsere Entwicklung nicht auf Dauer beendet, wie es die bis vor einigen Jahrzehnten unvorstellbare Blüte der jüdischen Welt heute bezeugt. Unsere Gemeinde und ihre Mitglieder – also wir – können entscheiden, ob diese Gemeinde eine erfolgreiche Zukunft hat oder ob sie in Vergessenheit gerät und nur noch in einigen Geschichtsbüchern und Enzyklopädieartikeln erwähnt wird.

Zur Basis unserer traditionellen Einheitsgemeinde gehört es, dass ihre Mitglieder, obwohl sie eine sehr heterogene Gruppe sind, unter anderem zu gemeinsamen rituellen jüdischen Erfahrungen zusammenkommen, wiewohl nicht alle diese gemeinsame Praxis gleich oft erleben. Seit Jahren ist das allerdings immer weniger eine Gemeinsamkeit. Die gemeinsame Praxis gehört jedoch zum Zukunfts­bild einer jüdischen Gemeinde. Die gezielte Erlösung, ob von einer kleinen oder einer grossen Zore, hat eine deutliche geistige Dimension. Sicherlich haben wir in unserer reiche Geschichte genügend Erfahrung, um diese Dimension für unsere unterschiedlichen Mitglieder zu einer Wirklichkeit zu machen, so dass wir uns wieder mehr zu traditionellen jüdischen Erfahrungen treffen und vereinigen.

Rabbiner Arie Folger,
Predigt zu Schabbat Rosch Chódesch Nissán 5765
(10. April 2005)

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