Das Lied mit Herz und Seele singen1
Da standen sie, ausser Atem, mit Freudentränen in den Augen. Endlich waren sie in Sicherheit. Sie hatten die unwahrscheinlichste Rettung erlebt. Es war schon ein ganzes Jahr her, dass Moschè zu ihnen gekommen war. Damals war er noch ein Fremder, ein Bruder, der in ein weit entferntes Land geflohen war und sich dort niedergelassen hatte, ein in Ungnade gefallener Prinz. Er war mit einer unglaublichen Nachricht gekommen: Sie würden bald frei sein. Frei! Das hatte Gott ihm gesagt.
Wenn diejenigen, die diese Nachricht hörten, skeptisch waren, konnte man das verstehen, aber sie alle wussten, dass der Zeitpunkt, auf den sie alle gewartet hatten, nun gekommen war.
Und jetzt, nachdem ihre Gebieter von den merkwürdigsten Katastrophen getroffen worden waren, nachdem eine gewaltige Armee sie auf dem Weg in die Wüste verfolgt hatte und sie um ihr Leben bangen mussten, waren sie durch ein Wunder gerettet worden und waren endlich frei. Stellen wir uns vor, wir wären dabei gewesen – wie glücklich hätten wir uns gefühlt! Wie dankbar für unser Überleben!
In diesem Moment fühlten sich Moschè und das Volk Israel veranlasst, zu singen. Die Torá berichtet uns:
< dir=”rtl”>אָז יָשִׁיר־מֹשֶׁה וּבְנֵי יִשְׂרָאֵל אֶת־הַשִּׁירָה הַזֹּאת לַה’
Dann wollten Moschè und die Kinder Israels für den Ewigen singen …2
Was heisst wollten singen!? Die Form ja- (ja‘assè, ja’amin, jochal usw., oder jaschirr) kann im Hebräischen unter anderem als ‘will tun’, ‘wird tun’ oder ‘pflegte zu tun’ verstanden werden. Das scheint hier nicht zu passen; wir hätten eher אָז שָׁר ‘da sang’ erwartet, nicht אָז יָשִׁיר. Die jaschirr-Form ist bei zukünftigen oder wiederholten Ereignissen angebracht, aber das Lied am Meer war doch ein einmaliges Ereignis, nicht etwas Wiederkehrendes!?
Ibn ‘Esrá, Rambán, Rabbi Don Jizchák Abarbanel und andere Kommentatoren (wie auch Raschi in seiner ersten Interpretation) behaupten, dass die Verwendung von יָשִׁיר angemessen sei; vor allem in Verbindung mit dem Wort אָז könne es eine poetische Vergangenheitsform sein.
Raschi zitiert aber auch eine faszinierende Berajta, die sich mit allen Vorkommen dieser grammatischen Form befasst, und erklärt, dass sich jaschirr hier auf ein zukünftiges Ereignis bezieht. Wir müssten also אָז יָשִׁיר übersetzen als: dann werden Moschè und die Kinder Israels singen. Dann?! Wann ist dann? Dazu sagt Rabbi Me’ír des Talmuds:
Wo finden wir [einen Hinweis auf] die Wiederbelebung der Toten in der Torá? Weil es heisst: As jaschirr Moschè u-wenéj Jissra’él et ha-Schirá ha-sót laSchém. Es heisst nicht שָׁר, sondern יָשִׁיר. Daraus [lernen wir] die Wiederbelebung der Toten in der Torá.3
Rabbi Me’ír erklärt dann einige weitere Fälle, in denen diese besondere grammatische Form vorkommt, und interpretiert ja-… fast immer als eine Zukunftsform.
Rabbi Me’írs Bemerkung ist höchst überraschend und sehr tiefgründig. Aus dem Zusammenhang des Verses ist ganz klar, dass unsere Vorfahren sich veranlasst fühlten, zu singen und ha-Kadosch baruch Hu zu preisen. Wenn das Lied am Meer in dieser Situation noch nicht gesungen wurde, wenn es lediglich verfasst wurde, aber noch עַד בִּיאַת הַגוֹאֵל wartet – bis zur Endgültigen Erlösung – dann folgt daraus, dass unsere Vorfahren entweder nicht dann und damals אָז יָשִׁיר singen konnten, oder dass sie das Lied zwar irgendwie gesungen haben, aber dass es unvollständig blieb.
Der Midrásch Rabbá4 betont besonders, dass sich die Grösse Gottes durch das Wunder von קְרִיעַת יַם סוּף, der Spaltung des Schilfmeers gezeigt hat. Bis dahin war Gott zwar der Höchste König gewesen, aber jetzt verbreitete sich Sein Ruhm im ganzen Land. So ist es recht erstaunlich, dass unsere Vorfahren dieses Preislied nicht wirklich singen konnten.
Hinter Rabbi Me’írs Position steht eine Haltung, die wir im ganzen Tanach finden können. Sie warnt den Menschen davor, zu stark auf die gegenwärtige Situation zu vertrauen. Als Moschè Gott nach Seinem Namen fragte, antworte Er: אֶ־הְיֶ־ה אַשֶׁר אֶ־הְיֶ־ה ‘Ich werde sein, was Ich sein werde’. Nach Raschi bedeutet das: ‘Ich werde in diesem Exil mit ihnen sein, und ich werde auch in zukünftigen Exilen mit ihnen sein’.5 Einerseits waren wir frei, unsere Unterdrücker waren im Meer ertrunken, aber andererseits standen wir vor der grossen und unbarmherzigen Wüste, in der uns Gott wiederholt die Chance gab, uns durch בִּטָחוֹן – Gottvertrauen – und מְסִירַת נֶפֶשׁ – Aufopferung – auszuzeichnen, aber wir versagten zehn Mal.
Die Zeit in der Wüste war auch eines jener zahlreichen Exile, die wir durchlebt haben, und wenn wir im Exil sind, selbst nachdem wir das grosse Wunder von קְרִיעַת יַם סוּף erlebt haben, können wir nicht wirklich über das singen, was wir nur durch einen dichten Nebel wahrnehmen. Die göttliche Gegenwart zeigte sich am Schilfmeer in einer nie dagewesenen Weise, aber von der endgültigen Erlösung waren wir noch weit, weit entfernt. Wir bekamen mehrere Gelegenheiten, eine Abkürzung zu gehen, aber unser Volk war nicht auf dem entsprechenden spirituellen Niveau, und deshalb bleibt unser אָז יָשִׁיר entweder ungesungen oder unvollständig.
Dieser Gedanke findet sich auch bei Rabbi Jochanan, der im Namen von Rabbi Schim‘ón bar Jocháj Folgendes sagt, wobei er den beliebten Psalm Schir ha-Ma‘alót zitiert:
Es ist dem Menschen verboten, seinen Mund in dieser Welt mit Lachen zu füllen, wie es heisst: „Dann wird sich unser Mund mit Lachen füllen und unsere Zunge mit Jauchzen.“6
Das Gegenstück finden wir in einem Psalm, der nicht so bekannt ist, wie er es sein sollte: ‘Al Naharót Bawèl.7
Wir wissen, dass unsere Vorfahren, die von Nebuchadnèzar ins Exil verschleppt wurden, in Babylonien in der Regel freigelassen und gut aufgenommen wurden. Wir können uns die Szene vorstellen, in der die Babylonier zu den Leviím sagen: „bald werdet ihr frei sein, bald werdet ihr wie wir ein angenehmes Leben in Wohlstand leben – singt doch; fühlt euch frei, zu singen, jubelt über eure Freiheit. Hier seid ihr nicht unterdrückt… Hier sind alle gleichberechtigt.” Und trotzdem antworteten die Leviim: „Wie könnten wir denn das Lied Gottes in einem fremden Land singen?“8
Auch wir leben heute in freien und im allgemeinen gerechten Staaten, aber auch wir heute können nicht singen. Denn so wie das freie und angenehme Babylonien schliesslich zur Bühne für Haman werden konnte, erwägen die freien Staaten heute, Haman, äh, Hamas, auf die Bühne legitimer Regierungen zu heben. Vor einigen Monaten wurde die Legitimität des jüdischen Staates in massgeblichen westlichen Medien diskutiert, und obwohl die Welt schon ein wenig auf die ungeheurlichen Äusserungen von Mahmud Ahmadinejad reagierte, in denen er den Holocaust leugnete und kampflustige Bemerkungen gegenüber Israel machte,9 ist dem durchschnittlichen Nachrichtenhörer gar nicht bewusst, wie viel Gift die iranische Führung verbreitet.10
In diesen Zeiten singen wir zwar אָז יָשִׁיר, aber unser Lied bleibt unvollkommen, denn wir können nicht wirklich das Lied haSchéms in einem fremden Land singen. Aber wir haben die Zusicherung von Rabbi Me’ír, die auch ein Grund dafür ist, dass wir an Jom Tow Jiskor sagen: eines Tages werden wir das Lied wirklich singen, und bis dahin sollten wir daran denken, dass diese Zeit noch nicht gekommen ist.
Mögen wir würdig sein, die Vollständige Erlösung bald, in unseren Tagen, zu erleben. Amen.
1Predigt zum letzten Tag Pèssach, 22. Nissán 5766 (20. April 2006)
2Schemót 15:1
3Talmud Bawlí, Sanhedrin 91b
4Schemót 23:1
5Rashi Schemót 3:14
6Talmud Bawlí, Berachót 31a, auf der Grundlage von Tehillím 126:2
7Eigentlich sollte man Schir ha-Ma‘alót nur an solchen Tagen vor dem Benschen singen, an denen man kein Tachanun sagt. (Siehe Siddur Schma Kolenu S. 71) Das trifft bei Hochzeiten immer zu, aber selten bei einer Bar oder Bat Mizwá. An anderen Tagen, auch bei einer Bar oder Bat Mizwá, sollte Al Naharot Bawel gesungen werden. Vielleicht ist die Zeit reif, dass wir uns eine passende, eher traurige Melodie dafür beibringen.
8Tehillím 137:4
9Siehe zum Beispiel: “Ahmadinejad threatens West again”, The Jerusalem Post, 8. März 2006 oder „Palestinian Tells UN His People Want Peace“, Los Angeles Times, 5. April 2006.
10Siehe die ausgezeichnete Darstellung in der französischen jüdischen Monatsschrift l’Arche, Nr. 574, Februar 2006.