Religiöse Andacht ist Herzenssache, עֲבוֹדַת הַלֵּב, etwas, was man im Innersten seiner Seele empfindet. Man könnte daraus schliessen, dass sie etwas ist, was man bestens im Privaten praktizieren kann. Wenn jemand sich in der Seele als sehr jüdisch empfindet, darf er vielleicht deshalb damit zufrieden sein, zu beten, wann und wo es ihm gefällt. Ob man sich für das Gebet einem Minján anschliesst oder für das Torálernen ins Bejt Midrásch geht, sollte letztlich keine grosse Rolle spielen. Oder?
In seinem Kommentar zu der Aufforderung קְדֹשִׁים תִּהְיוּ ‘heilig sollt ihr sein’, der Gottes Anweisung an Moschè vorausgeht דַּבֵּר אֶל־כָּל־עֲדַת בְּנֵי־יִשְׂרָאֵל ‘sprich zur ganzen Gemeinde der Kinder Israels’ (Wajikrá 19:2), sagt Raschi: פַּרֲשָׁה זוּ בְּהַקְהֵל נֶאֱמְרָה ‘dieser Abschnitt wurde bezüglich der Versammlung gesagt’, d.h. er bezieht sich auf die Gemeinschaft des Volkes Israel.
Nach einer gängigen Auffassung will Raschi sagen, dass dieser Abschnitt in einer öffentlichen Zeremonie gelehrt wurde, und zwar weil רוֹב גּוּפֵי תּוֹרָה תְּלוּיִם בָּה ‘die meisten wesentlichen Vorschriften der Torá davon abhängen’ – er enthält sozusagen die Kapitelüberschriften für einen grossen Teil der Mizwót, die für das alltägliche Leben relevant sind (oder vielmehr zur Zeit des Tempels relevant waren, denn es sind auch Mizwót darunter, die man nur ausführen kann, wenn das Bejt ha-Mikdásch existiert).
Diese Interpretation ist jedoch unvollständig. Es scheint eher, dass die Torá uns hier lehren will, dass das Wesen jüdischen Lebens ein Leben in Heiligkeit ist. Und nach dem Werk Ma’ór wa-Schámesch von R’ Kalonymus Kalman Epstein (1754-1823) ist genau dieses Leben in Heiligkeit zwangsläufig mit dem Begriff Gemeinschaft verbunden.
R’ Epstein räumt ein, dass nach dem Rambam (Maimonides) die Gesellschaft, in der man sich bewegt, schädlich sein kann. Der Rambam lehrt:
דרך ברייתו של אדם להיות נמשך בדעותיו ובמעשיו אחר ריעיו וחבריו, ונוהג במנהג אנשי מדינתו. לפיכך […] אם היה במדינה שמנהגותיה רעים ואין אנשיה הולכים בדרך ישרה ילך למקום שאנשיו צדיקים ונוהגים בדרך טובים. ואם היו כל המדינות שהוא יודען ושומע שמועתן נוהגים בדרך לא טובה, כמו זמננו זה, או שאינו יכול לילך למדינה שמנהגותיה טובים, […] יישב לבדו יחידי […] ואם היו רעים וחטאים שאין מניחין אותו לישב במדינה אלא אם כן נתערב עימהן ונוהג במנהגן הרע ייצא למערות ולחווחים ולמדברות ואל ינהיג עצמו בדרך חטאים […].
Es gehört zur Natur des Menschen, dass er in seinen Ansichten und Handlungen von seinen Freunden und Bekannten beeinflusst wird und sich entsprechend den ortsüblichen Gewohnheiten verhält. Deshalb […] wenn er an einem Ort ist, der schlechte Gewohnheiten hat und dessen Menschen nicht auf dem rechten Weg wandeln, soll er an einen Ort gehen, dessen Menschen rechtschaffen sind und gute Gewohnheiten pflegen. Und wenn alle Orte, die er kennt und von denen er gehört hat, ungute Gewohnheiten pflegen, wie in unserer Zeit [Es scheint, dass die gesellschaftlichen Probleme nicht nur unsere Zeit betreffen –AF], oder wenn er nicht an einen Ort mit guten Gewohnheiten ziehen kann, […] so soll er allein leben […] und wenn [die Menschen an seinem Ort] schlecht und sündhaft sind und ihn nicht an diesem Ort leben lassen, sofern er sich nicht mit ihnen mischt und ihre schlechten Gewohnheiten pflegt, so soll er in Höhlen oder Wüsten leben und sich nicht wie die Sünder verhalten […] (Mischné Torá, Hilchót De‘ót 6:1-2)
R’ Epstein bemerkt, dass man sich zwar im Extremfall aus einer schlechten Gemeinschaft zurückziehen soll und dass jemand, der das tut, geistig rein wird, dass er jedoch Heiligkeit so nicht erreichen kann. Um Heiligkeit zu erreichen, muss man Teil einer Gemeinschaft sein. Man soll zwar, selbst um einen hohen Preis, die Gesellschaft von Sündern meiden, aber man muss eine Gemeinschaft suchen, eine Gemeinschaft von Rechtschaffenen, um heilig zu werden. פַּרֲשָׁה זוּ בְּהַקְהֵל נֶאֱמְרָה – dieser Abschnitt bezieht sich auf die Gemeinschaft des Volkes Israel, weil man die Aufgabe, heilig zu sein, nur in der Gemeinschaft erfüllen kann.
Gewiss sind Gebet und Ritual Herzenssache. Gewiss kann man meinen, dass es genügt, zu Hause zu beten, dass man die öffentliche Ausführung dieser und anderer Mizwót nicht „braucht“, wenn man damit zufrieden ist, gelegentlich zu Hause zu beten und die Synagoge gelegentlich als kostenloses Konzert und Treffen mit Freunden zu nutzen. Man könnte das meinen – aber man könnte sich damit auch irren.
Gewiss kann man zu Hause im eigenen Tempo beten – und so viel oder so wenig, wie man kann. Gewiss kann man zu Hause eine gemütliche Ecke finden, wo man es sich bequem machen und Torá lernen kann. Aber nur in der Gemeinschaft der Rechtschaffenen kann man über die Ausführung der einzelnen Mizwá hinausgehen und eine Synergie erreichen, die durch die besondere Mizwá von קְדֹשִׁים תִּהְיוּ ‘heilig sollt ihr sein’ ausgedrückt wird.
Wenn wir das nächste Mal in die Nähe der Synagoge kommen oder kommen könnten, sollten wir daran denken, dass wir innerhalb dieser Mauern nach Heiligkeit streben können. Jede Gelegenheit, dort Minchá oder Ma‘aríw zu beten, ist eine besondere Chance. Jedes Mal, wenn wir Schacharít mit Tallít, Tefillín und Minján sagen, haben wir noch einen Tag gut begonnen.
Wenn wir in der Synagoge oder im Bejt Midrásch oder irgendwo sonst in unserer Gemeinde sind, können wir einen Moment innehalten und uns klar machen, welche enorme Verantwortung wir hier haben: sicherzustellen, dass unsere Gemeinschaft wirklich eine Gemeinschaft der Rechtschaffenen ist.