Rosch haSchaná gilt als richtiger Jomtów, ein Festtag, an dem man besondere Speisen isst und mit Familie und Freunden an dem Festtisch sitzt. Hingegen gilt Jom Kippúr als geistiger Tag, des Sündenbekennens, des Bereuens. Ist es aber vielleicht genau umgekehrt? Ist der Fasttag vielleicht doch festlicher als der Neujahrstag? Die festlichkeit Rosch haSchanás wird in der folgende Predigt, die meinem Buch “Ein lärmendes, reissendes Wildwasser” seinen Namen verleiht, erforscht.
Ein reissendes lärmendes Wildwasser
Es gibt einen Tag im Jahr, der voller Widersprüche ist. Einerseits ist er ein wunderschöner Feiertag, aber andererseits eine Zeit von Angst und Zittern. Er löst sowohl angenehme Gefühle als auch Befürchtungen aus, Schrecken und zugleich Ehrfurcht. Dennoch ist nicht Zerstörung für diesen Tag kennzeichnend, sondern Aufbau und Vergebung. Man könnte meinen, es sei Jom Kippúr, ein Tag, an dem sich Festlichkeit und Fasten, Liebe und Schrecken miteinander verbinden. Aber es ist nicht Jom Kippúr.
Jom Kippúr ist der Tag der Vergebung, der Jahrestag von G”ttes Versöhnung mit Seinem Volk, nachdem es seine schreckliche Sünde mit dem Goldenen Kalb bereut hatte.1 Auch wenn Jom Kippúr ebenfalls in mancher Hinsicht paradox zu sein scheint, ist er nicht der Tag von Angst und Furcht, Zittern und Schrecken.
Es gibt einen Tag, von dem es im Gebet heisst:
die Engel stehen eilfertig, Angst und Zittern ergreift sie; dann rufen sie: „das ist der Tag des Gerichts, es wird Gericht gehalten über die Himmelsheere“, auch sie bestehen nicht vor Dir im Gericht. Auch die Erden-Waller werden Dir wie eine Herde vorgeführt.2
Dieser Tag voller Ehrfurcht, dieser Tag des Gerichts ist Rosch ha-Schaná.
Zwei miteinander verflochtene Themen durchziehen unseren Jahresbeginn: die Annahme der g”ttlichen Herrschaft durch die Menschen – sozusagen eine Krönungszeremonie für G”tt – und G”ttes Gericht über alle Geschöpfe. Diese beiden Themen kommen in der Beschreibung des Königs und Richters zusammen:
Lasst uns betrachten die grosse Heiligkeit des heutigen Tages, der furchtbar ist und Grauen erregend; an ihm zeigt sich Dein Herscherrecht in seiner Erhabenheit, errichtest Du Deinen Richterstuhl in Gnaden, thronst Du auf demselben in Wahrheit. Fürwahr! Du bist Richter, Anwalt, Entscheider und Zeuge, Abfasser und Unterschreiber, Berichterstatter und Rechnungsführer. Du gedenkst alles längst Vergessene, öffnest das Buch der Erinnerungen, sie lesen sich von selber heraus, jedes Mannes Tat ist mit eigener Hand unterschrieben; dann wird in das grosse Schofár geblasen, eine dumpfe Stimme wird vernehmbar, die Engel stehen eilfertig …3
Müssen diese beiden Themen miteinander verbunden sein? Muss Rosch ha-Schaná, unser Neujahrsfest, uns mit Angst und Furcht erfüllen, während wir zugleich aufgefordert sind, den König aller Könige zum König über uns zu krönen, derweil wir an dieser ernsten, aber doch im wesentlichen freudigen Zeremonie teilnehmen? Indem wir die Herrschaft G”ttes über uns annehmen und das als Teil einer Gemeinschaft tun, bringen wir die Menschheit näher zu G”tt und Seinem Wort. Sollte das nicht eher ein freudiger Anlass sein, ähnlich wie Schawu‘ót – der Tag, an dem wir die Offenbarung am Sinaj feiern? Warum erfüllt uns dann Rosch ha-Schaná nicht nur mit Ehrfurcht und Dankbarkeit, sondern auch mit unterschwelliger Angst und Furcht? Warum muss das Gericht gerade an Rosch ha-Schaná abgehalten werden?
Philosophisch betrachtet, gehören Gericht und Offenbarung zusammen. Und Rosch ha-Schaná ist ein Tag der Offenbarung. Er ist allerdings ganz anders als Schawu‘ót. Schawu‘ót ist ein Tag, an dem wir feiern, uns an die Offenbarung G“ttes und Seine Torá am Berg Sinaj erinnern und sie festlich nachvollziehen. Rosch ha-Schaná hat dagegen weniger mit der Erinnerung an die Vergangenheit zu tun als mit der Wiederholung der Krönung G”ttes in der Gegenwart; wir feiern nicht ein Ereignis aus früheren Jahren, sondern nehmen jetzt aktiv das g”ttliche Joch an.
Die aktive, persönliche Beteiligung an der Krönung G”ttes verursacht hier und jetzt eine sehr persönliche und sehr starke Offenbarung. Sie entsteht aus unserer eigenen Offenheit, aus unserer Bereitschaft, die Welt so zu sehen, wie sie ist, nämlich als eine Welt, die durch g”ttliche Vorsehung gelenkt wird und in der die Präsenz G”ttes eigentlich allgegenwärtig und allumfassend ist – und nicht so, wie wir es manchmal vorgeben, als eine grösstenteils von G”ttlichkeit leere, säkulare Welt. Diese Offenbarung ergibt sich unmittelbar aus unserer Bereitschaft anzuerkennen, dass G”ttes Hand wirklich in unser Leben eingreift, auch wenn wir oft nur die „natürlichen“, weltlichen Realitäten sehen. Dann wird Rosch ha-Schaná von selbst zum Tag des Gerichts.
Wenn wir die g”ttliche Gegenwart erkennen und das g”ttliche Joch auf uns nehmen, müssen wir notgedrungen eingestehen, dass wir persönlich angesichts der höchsten Gerechtigkeit G”ttes unwürdig sind. Die Offenbarung ist so stark, dass sie uns notwendigerweise mit unserer eigenen Heuchelei und Sündhaftigkeit konfrontiert. Wenn wir infolge der Anerkennung der Quelle der wahren Werte sehen, wie wir unser tatsächliches Leben entwertet haben und wie viel wertvoller unser Leben demgegenüber sein könnte, so ist das eine überwältigende Erfahrung und verwandelt die Offenbarung auch in einen Moment des Gerichts.
Nun stellt sich aber die Frage, warum wir mit dieser überwältigen Offenbarung konfrontiert werden müssen. Wäre ein gewöhnliches Leben ohne diesen jährlich wiederkehrenden Tag des Gerichts nicht vorzuziehen? Nein. Wir werden gleich erklären, warum.
Rosch ha-Schaná ist nicht nur eine persönliche Erfahrung und auch nicht nur die gemeinschaftliche Annahme des Himmelsjochs. Wäre es eine rein persönliche oder gemeinschaftliche Angelegenheit, so könnte jeder Einzelne und jede Gemeinde entscheiden, ob und wie man ein Rosch ha-Schaná feiern soll. Dieser heilige Tag fällt jedoch nicht auf ein beliebiges Datum, sondern auf ein schicksalsschweres.
Der Talmud berichtet von einer Meinungsverschiedenheit zwischen Rabbi Eli‘èser and Rabbi Jehoschú‘a darüber, ob die Welt im Monat Tischrí oder im Nissán geschaffen wurde.4 Rabbi ‘Ila’í, der die Meinung von Rabbi Eli‘èser teilt, dass die Welt im Tischrí geschaffen wurde, erklärt, dass die Schöpfung nicht an Rosch ha-Schaná begann, sondern fünf Tage zuvor, am 25. Elul.5 Rosch ha-Schaná war also der sechste Tag der Schöpfung – der Tag, an dem der Mensch geschaffen und die Schöpfung vollendet wurde.
Selbst eine ganz flüchtige Lektüre des Schöpfungsberichts6 bestätigt, dass der Ablauf der Zeit in den sechs Schöpfungstagen anders war. So erklärt Rabbi ‘Ila’í weiter, dass Adáms ganzer Aufenthalt im Garten Eden – mit seiner Sünde, G”ttes Urteil und der anschliessenden Verbannung aus dem Garten – auf den Nachmittag des sechsten Schöpfungstages beschränkt war. Wenn wir „Ha-Jóm Harát ‘Olám“ singen und damit Rosch ha-Schaná als Jahrestag der Schöpfung bezeichnen, so meinen wir den Jahrestag der Erschaffung des Menschen. Im Gegensatz zu einer naiven Interpretation von Adáms Verbannung lehrt Rabbi ‘Ila’í, dass G”tt Adám zwar eine Strafe gab, aber ihm doch verzieh. Und nicht nur das: G”tt offenbarte ihm, dass so wie an diesem Tag Adám vor Gericht gestellt und begnadigt wurde, in der Zukunft seine Nachfahren (also die gesamte Menschheit) an Rosch ha-Schaná vor Gericht stehen und ein gewisses Mass an Vergebung finden werden.
Wie Rabbénu Nissím erklärt,7 entsprechen die Hohen Feiertage und der ihnen vorangehende Monat Elúl den vierzig Tagen, in denen G”tt nicht nur unseren Vorvätern die schreckliche und eigentlich unverzeihliche Sünde des Goldenen Kalbs verzieh, sondern sogar den Bruch kittete, der dadurch, dass sie sich so erniedrigt hatten, entstanden war. Im Verlauf dieser vierzig Tage versöhnte sich G”tt mit Israel. Diese Versöhnung erreichte am 10. Tischrí, Jom Kippúr, ihren Höhepunkt mit der Aufforderung G”ttes, ein Heiligtum für Ihn zu bauen, wo Seine Gegenwart inmitten des Volkes in der Wüste ruhen konnte: das Mischkán. Jedes Jahr sind diese vierzig Tage, so Rabbénu Nissím, eine Zeit besonderer g”ttlicher Barmherzigkeit.
Raw Joseph Ber Soloveitchik schrieb, Religion sei nicht primär eine Zuflucht von Gnade und Barmherzigkeit für die Niedergeschlagenen und Verzweifelten, ein zauberhafter Bach für gebrochene Gemüter, sondern ein reissendes, lärmendes Wildwasser des menschlichen Bewusstseins mit all seinen Krisen, Schmerzen und Qualen.8 Diese autobiografisch geschriebene Widerlegung des vollständigen Unsinns, den Karl Marx verbreitet hat (Religion sei „das Opium des Volkes“), ist der Schlüssel dazu, die echte und erfüllende religiöse Erfahrung zu verstehen. In diesem Sinn kann man Rosch ha-Schaná nicht wahrhaft erfassen und nicht wahrhaft erleben, wenn man sich nicht das dramatische und sogar traumatische Wesen des Tages bewusst macht. Und auch wenn wir Angst vor dem Wildwasser haben und erwägen, nicht hineinzugehen, können wir es nicht wirklich vermeiden.
Man kann sich durchaus einen Kalender vorstellen, in dem wir nicht gezwungen sind, die überwältigende Offenbarung, die sich aus der Annahme der Herrschaft G”ttes ergibt, und das damit verbundene Gericht zu erleben. Es ist vorstellbar, dass wir diese Offenbarung nicht aktiv suchen. Dann würde uns aber das Leben ohnedies immer wieder zwingen, der Wahrheit ins Auge zu sehen, und die Last würde für uns unerträglich schwer. Wenn wir nicht einmal das Verdienst hätten, G”ttes Herrschaft eigenständig anzuerkennen und anzunehmen, wären wir der g”ttlichen Gnade noch weniger würdig, während unsere Sünden ohne die Läuterung durch jährliches Gebet und Reue uns weiter hinunterziehen würden. Stattdessen hat uns G”tt befohlen, Jahr für Jahr zu bekräftigen, dass wir uns als Seine Untertanen verstehen. Wir sollen aufgeschlossen begreifen und verinnerlichen, dass Er über der Welt steht (Transzendenz) und dass dennoch Seine Hand, Seine Gegenwart in die Welt eingreift (Immanenz). Obwohl diese persönliche Offenbarung uns Seinem Urteil unterwirft, ist Seine Gerechtigkeit nun mit Barmherzigkeit verbunden.
Die Gerechtigkeit G”ttes an Rosch ha-Schaná wird durch Seine Barmherzigkeit gemildert, weil Er das Adám zugesagt hat, aber auch weil wir bereit sind, sich Ihm zu unterwerfen – und zwar gerade am Jahrestag des Gerichts über Adám haRischón, der zugleich in die Zeit fällt, in der Er sich mit unseren Vorvätern versöhnte. Die stürmische See der Offenbarung, der wachsenden Nähe zu G”tt und der Anerkennung Seiner Macht zu befahren, ist allein schon verdienstvoll und somit ein Grund für Ihn, uns grosszügige Gnade entgegenzubringen.
Sicherlich ist eine persönliche Offenbarung beängstigend, aber sie ist auch von Ehrfurcht und Verehrung geprägt. Wenn wir nun beginnen, durch die zehn ehrfurchtsvollen Tage der Rückkehr zu steuern, sollten wir unsere Pflicht akzeptieren und unsere Aufgabe erkennen, intensiv beten und die Worte verinnerlichen, die wir sprechen, so dass unsere Gefühle und unser Bewusstsein mit all seinen Krisen, Schmerzen und Qualen im höheren Dienst G”ttes frei fliessen, damit wir unsere Aufgabe auf Erden erfüllen.
1 Kitzúr Schulchan ‘Arúch 128:1
2 Machsór, Unetanè Tókef
3 Ebenda
4 Talmud Bawli, Rosch ha-Schaná 10b-11a
5 Pesiktá de-Ráw Kahána 23:1
6 Bereschít Kap. 1-3
7 Rabbénu Nissim (RaN), Rosch ha-Schaná 16b, s.v. Be-Rósch ha-Schaná
8 Halachic Man, Jewish Publication Society 1983, S. 142