Jaakow und Essaw waren Zwillingsbrüder, von denen Essaw der Erstgeborene war. Vom frühen Leben dieser Zwillinge berichtet die Tora uns lediglich über die Schwangerschaft ihrer Mutter (1.B.M. 25, 21-23), ihre Geburt (ebd. 24-26), wie Jaakow das Erstgeburtsrecht von Essaw abkaufte (ebd. 29-34) und wie Jaakow Jahre später mit einer cleveren Täuschung schließlich den Segen seines Vaters bekam, der für Essaw bestimmt war (ebd. Kap. XVII).
Nur diese vier Geschichten werden uns erzählt, bevor Jaakow das Elternhaus verließ. Daher sind diese Geschichten vermutlich von großer Bedeutung. Zweimal eignete sich Jaakow Privilegien seines Bruders durch clevere Tricks an. Welche Lehre haben wir aus diesem Betrug zu entnehmen? Heißt das, dass – G“tt behüte – das Volk Israel durch Betrug und Ungerechtigkeit gegründet wurde?
Dem dürfen wir nach genauere Betrachtung der Geschichte der Segensverleihung widersprechen.
Obwohl Jaakow Jahre zuvor das Erstgeburtsrecht dem Essaw abgekauft hatte, gelang es ihm gar nicht, den Segen Jizchaks für Essaw zu bekommen. Viel eher war das die Initiative seiner Mutter (ebd. 27, 5-10). Jaakow fürchtete sogar, dass der Plan aufgedeckt werden kann (ebd. 11-12), was aber Riwka nicht abschreckte (ebd. 13). Als Essaw schließlich dem Vater die wohlriechende und leckere Mahlzeit brachte und entdeckte, dass Jaakow seinen Segen bereits weggeschnappt hatte, und Jizchak sich dessen bewusst wurde, erwiderte Jizchak „gam baruch jihje“ – „er soll doch gesegnet werden!“ (ebd. 27, 33). Daraus ist zu entnehmen, dass Jaakow eigentlich wegen des Einkaufs des Erstgeburtsrechts mit Recht Anspruch auf diesen Segen hatte; wieso wollte Riwka den Segen lieber durch Täuschung bekommen?
Auf Basis der wenigen Verse, die uns etwas über den Charakter der Zwillingsbrüdern erzählen, schildert Rabbiner Samson Raphael Hirsch ein überzeugendes Szenario, das die ganze Geschichte auf den Kopf stellt. „Jizchak liebte Essaw, während Riwka den Jaakow liebte“ (ebd. 25, 28), erzählt uns die Tora. Deshalb möchte Riwka, dass Jaakow den Segen erhalten soll, während Jizchak vorhatte, Essaw, den Erstgeborenen, zu segnen.
Ein neutraler Zuschauer sollte bereits wissen, dass Essaw dem unwürdig war, der einerseits keinen Wert auf das Erstgeburtsrecht legte und anderseits Frauen heiratete, die die Werte der Familie Awrahams nicht hochhielten. Darauf stützt sich Rabbiner Hirsch und schlägt vor, dass Jizchak und Riwka bereits lange Jahre über den Charakter beider Söhne stritten. Jizchak war überzeugt, dass Essaw ein würdiges Glied Israels war, der zusammen mit Jaakow ein Team bilden würde. Riwka hingegen sah, dass Essaw dem unwürdig war. Das bestritt Jizchak wiederum.
Deshalb fand Riwka in der Segensverleihung eine ausgezeichnete Gelegenheit, um Jizchak schließlich zu beweisen, dass sie Recht hatte, denn mit ihrem Plan, Jaakow als Essaw zu verkleiden, zeigte sie Jizchak, dass er nicht einmal zwischen den Söhnen im Gespräch unterscheiden konnte, geschweige denn, dass er die Täuschungen Essaws bemerkt hat. Als Jizchak bemerkte, dass er getäuscht wurde, war er entsetzt (ebd. 33), verkündete aber „gam baruch jihje“ (ebd.), mit dem er seiner Frau gleich Recht gab.