Wenn unsere eingenen Worte uns mahnen – Gastbeitrag

539px-Knesset_Menorah_Shema_Inscription

Austrian-German_Swiss_flags-tinyVon Rabbiner Schlomo Hofmeister

Der zweite Abschnitt des Schma Jissraël stammt aus unserer Paraschat Ekew. Darin werden wir aufgefordert, dem Lieben G’tt „zu dienen“ mit unserem „ganzen Herzen“. (Dewarim 11:13)

Unsere Weisen fragen im Talmud: „Was ist diese Awoda sche-ba-Lew – dieser Dienst des Herzens? Das ist das Gebet!“ (Talmud, Ta’anit 2a) Was bedeutet dieses sonst allgemein bekannte Konzept? Wie ist der Begriff des Dienens mit Gebet gleichzusetzen? Beim Dienen ist die Hauptperson derjenige der bedient wird, aber beim Gebet steht doch die Person des Betenden im Mittel­punkt!? Die Antwort liegt im richtigen Verständnis des Gebets im Judentum, das sich nicht mit der landläufigen Auffassung deckt.

Wenn wir die Essenz irgendeines Sachverhalts oder Konzepts verstehen wollen, ist es immer hilfreich die im Hebräischen – der Sprache der Tora – beinhaltete Grundlage des jeweiligen Gegen­standes näher zu untersuchen. Wörtlich wird das deutsche „beten“ im Hebräischen durch das Wort „hitpalel“ wiedergegeben, ein Reflexivum des Verbs „palol“, was man im Deutschen wiederum mit „urteilen“ übersetzen könnte. „Hitpalel“ bedeutet also sich selbst urteilen oder selbstkritisch in sich zu gehen – zu Beginn und am Ende einer jeden „Tefilah“.

Demgegenüber kommt das deutsche „Gebet“ jedoch von bitten, beziehungsweise um etwas beten, im Allgemeinen um eine Hilfeleistung oder Unterstützung in einer bestimmten Angelegenheit. Das bedeutet nicht, dass wir kein Gebet in diesem Sinn des Bittens kennen würden. Selbstverständlich ist auch dies ein wichtiger Teil des religiösen jüdischen Lebens in dem wir G’tt eine wichtige Funktion einräumen, jedoch sind das nicht unsere im Wortlaut genauestens festgelegten „Tefilot“, die wir in unseren Siddurim finden – deren Essenz unterscheidet sich grundlegend.

Wie Rabbiner Marc Breuer, ein Urenkel von Rabbiner S. R. Hirsch, erklärt, sind wir aufgefordert, unsere moralischen und ethischen Standpunkte, unser Handeln und Tun zu begutachten und mit dem Ideal, den unveränderlichen Prinzipien der jüdischen Wertvor­stellungen, die uns in Tora und Talmud überliefert sind, zu vergleichen. Die genau zu diesem Zweck entworfene, ebenfalls unveränderliche Formulierung des Textes der jüdischen „Gebete“ dient dazu, unsere aktuelle Persönlichkeit daran messen zu können.
Wenn wir im Schma Jissraël „beten“: „Du sollst Deinen G’tt lieben mit Deinem ganzen Herzen, mit Deiner ganzen Seele und mit Deinem ganzen Körper“ (Dewarim 6:5), beurteilen wir uns sogleich selbst, indem wir uns fragen: Lieben wir Ihn wirklich? Sind wirklich unser ganzes Herz und unsere ganze Seele im Dienst der Liebe zu G’tt? Wenn wir in der Amida dreimal täglich „beten“: „Du (G’tt) bist mächtig … bist stark um stets zu helfen, versorgst die Lebenden in Liebe, stützt die Fallenden und heilst die Kranken und löst die Gefesselten …“ drängen sich uns automatisch die Fragen auf: Empfinden wir wirklich im Inneren unseres Bewusstseins die Grösse und Allmacht G’ttes? Haben wir auch in schwierigen und scheinbar aussichts­losen Situationen noch das nötige G’ttvertrauen? Somit hilft uns also das jüdische „Gebet“ uns in die Lage zu versetzen, unsere Haltung und Einstellungen und damit auch unser Handeln zu korrigieren und zu verbessern, indem wir unsere Haltung gegenüber G’tt ändern.

So kann man also den Gedanken des Dienens mit dem jüdischen Gebet erklären, das eine gewaltige Anstrengung zur Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber von uns abverlangt. Eine Mühe, die wir auf uns nehmen – aus Liebe zu G’tt, um ihm zu dienen mit unserem ganzen Herzen.

Übrigens: gerade weil die Bedeutung des deutschen Wortes „beten“ nicht dem jüdischen Verständnis entspricht, wird es von traditionellen Juden im Allgemeinen nicht benutzt und sie sagen stattdessen „dawen“ (ein aus dem alt-slawischen kommendes Wort) oder „oren“ (vom lateinischen Wort orare).

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