
“Consolation” – © Ornorm, @DeviantArt
Nach der Toralesung am Schabbat lesen wir die Haftara, einen Ausschnitt aus den Prophetenbüchern. Während meistens die Haftara einen thematischen Zusammenhang mit dem Wochenabschnitt der Tora hat, gilt um diese Jahreszeit ein anderes Prinzip: An den drei Schabbatot vor dem 9. Av (dem Fasttag, an dem wir der Zerstörung des Tempels gedachten), lasen wir die „drei Haftarot der Vergeltung“ – mahnende Texte, die das jüdische Volk für seine Fehler tadelten und böse Konsequenzen in Aussicht stellten. Nach dem 9. Av, also nachdem die Zerstörung Jerusalems und des Tempels das Thema war, lesen wir die „sieben Haftarot des Trostes“ – Ausschnitte aus dem Buch Jesaja, die davon sprechen, dass Jerusalem nach all dem Schlimmen, das war, getröstet sein soll. Am Ende mündet diese Kette von Texten des Trostes in das Thema der Tschuva, der Umkehr, das zu Rosch haSchana / Jom Kippur im Mittelpunkt stehen wird.
Ins Auge stechen die Proportionen: Drei Wochen Mahnungen. Sieben Wochen Trost. Mahnungen und Tadel müssen wohl oder übel ihren Platz im Leben haben. Wir haben es notwendig, auf unsere Fehler aufmerksam gemacht zu werden. Doch viel mehr Platz bekommt der Trost. Das mag uns zeigen, wie wichtig Trost ist.
Aber die Haftarot des Trostes können uns noch etwas zeigen, nämlich die Schritte eines Wiederaufbaus, wenn die Beziehung zu G“tt gelitten hat. Die Reihenfolge der sieben Haftarot gibt uns Hinweise. Die Texte kommen nicht in der Reihenfolge, in der sie im Buch Jesaja auftauchen. Also scheint ein anderer Grund dahinter zu stecken. Eine mittelalterliche Quelle erklärt, dass die Reihenfolge den Sinn hat, dass zunehmend mehr Lobpreis eintritt. (Tosafot zu Megilla 31b). Somit steigert sich auch die Freude in den Texten. Versuchen wir, diesen Gedanken etwas weiter auszuführen:
Die erste der sieben (die wir vorletzte Woche lasen) brachte Beruhigung nach der Katastrophe – keine weiteren Strafen mehr, es reicht. Und G“ttes Allmacht wurde beschrieben. Gewiss ist es beruhigend, zu wissen wenn der Schrecken ein Ende hat. Doch Freude ist da keine, allenfalls ein Trocknen der Tränen. Und Respekt vor G“ttes Allmacht. In der zweiten Haftara (von letzter Woche) lag der Schwerpunkt auf G“ttes Zusicherung, dass wir – trotz aller Schrecklichkeiten, die stattfanden – nicht völlig in Stich gelassen werden. Hier war die Aufgabe, wieder Vertrauen zu fassen. Weitere Entwicklungen (etwa: aufzustehen, aktiv zu werden) wurden dort noch nicht verlangt.
In dieser Woche (Haftara zu Re‘eh, Jesaja 54:11-55:5) spricht die Haftara davon, dass Jerusalem immer noch nicht getröstet ist. Nun wird aber Wiederaufbau und Sicherheit in Aussicht gestellt, und zwar sowohl physische Sicherheit (Angreifer werden keinen Erfolg haben) als auch materielle Sicherheit (wer Durst hat, trinke usw.). Friede wird sein. Die Zusicherung, dass Jerusalem wieder, sogar noch schöner als zuvor, aufgebaut werde, kommt in der Haftara dieser Woche, nachdem die beiden vorigen Texte die Vorbedingungen – Akzeptanz von G“ttes Herrschaft sowie Vertrauen in G“tt – geklärt haben. Jetzt kommt auch die Aufforderung, uns aktiv auf bessere Wege zu begeben: „Durch Gerechtigkeit [Zedaka] etabliere dich, halte dich fern von Beraubung“.
Bemerkenswerterweise erst nach dieser Haftara – die eine Stimmung von Sicherheit und festem Boden unter den Füßen eingeführt hat – kommen in den Texten der folgenden Wochen Aufforderungen wie „erwache“, „singe“, „steh auf und lass dein Licht scheinen“. Erst nachdem eine gewisse Festigkeit wieder erlangt wurde, ist uns zumutbar, auch zu aktiver Freude zu finden. Die letzte der sieben Haftarot spricht von intensiver Freude und Jubel, den die Seele in G“tt findet.
Bereits die Haftara dieser Woche fordert uns auf, den Weg der Gerechtigkeit anstelle unehrlicher Mittel zu gehen. Die beste Art, gute Werke zu tun, ist aber, sie mit Freude zu tun. Erst dann, wenn auch das gelingt, ist der Weg des Trostes, den die sieben Haftarot markieren, komplett.