
Der Prophet Nathan weist König David zurecht ─ Eugène Sibert (1851-1931)
Von Rabbiner Schlomo Hofmeister
Nun schon zum vierten Mal hintereinander, ist auch in unserem dieswöchigen Wochenabschnitt, Paraschat Re’eh, das Hauptthema der schwierige und unangenehme Gegenstand von „Diwrej Tochecha“ – Worte der Warnung, der Zurechtweisung und Mahnung (Mussar). Vor der Einwanderung in das heilige Land, das Gelobte Land, werden die Benej Jissraël eindringlich an ihren Teil der Verpflichtung zum Tora-Bund und die Konsequenzen der Missachtung ihrer Verantwortung erinnert.
In ähnlicher Weise werden auch wir, passend zu diesen Wochen der Teschuwa, der Reue und Umkehr, in Vorbereitung auf die Hohen Feiertage an die Notwendigkeit erinnert unsere schlechten Gewohnheiten abzulegen, denen wir im Laufe des Jahres erlaubt haben Teil unserer Selbst zu werden; und unsere Jirat Schamajim (G”ttesfurcht), unser Bewußtsein, dass G”tt in jedem Augenblick, in jeder öffentlichen und privaten Situation anwesend ist, zu erneuern.
Das Buch, das wir jedes Jahr um diese Zeit lesen, das 5. Buch Mosche, heißt Dewarim. Es kann aber auch leicht anders punktiert, als Sefer Deworim, ein Buch der Bienen gelesen werden. Genauso wie Deworim, also Bienen, einen schmerzhaften Stich haben und doch unaufhörlich süßem Honig produzieren, verfolgen auch die unangenehmen Dewarim, die Worte der Zurechtweisung und Mussar, ein gutes und süßes Ziel: uns zu erinnern und aufzufordern, das Richtige zu tun, uns an unseren Teil der Abmachung zu halten, uns und unser Verhalten den Werten und Regeln der Tora entsprechend neu auszurichten, damit der Liebe G-tt uns ein süßes Neues Jahr bescheren kann.
Re’eh Anochi noten lifneichem hajom Beracha u’Klalla – „Siehe ich gebe vor Euch heute einen Segen und einen Fluch“, heißt es ganz am Anfang unserer Parascha. Wie unsere Weisen erklären: Beracha und Kelala, ob Eure Taten und Lebensführung in Segen oder Fluch resultieren, das wurde heute beides „vor Euch“ gegeben – es liegt beides in Euren Händen, es obliegt Eurer eigenen Entscheidung und Verantwortung.
„Jirat Schamajim“, oft als „G-ttesfurcht“ übersetzt, bedeutet nicht, dass man Angst vor dem Lieben G-tt haben muss. Genauso wie G”tt niemals „zornig“, „wütend“ oder gar „rachsüchtig“ ist, und uns auch nicht „bestraft“ wenn wir etwas falsch machen, egal wie schlimm unser Verhalten auch sein mag. Uns wurden Beracha und Kelala in unsere eigenen Hände gegeben. Wenn wir das Richtige tun, wird uns Beracha zu Teil, wenn wir das Falsche tun, müssen wir für die negativen Konsequenzen unserer Handlungen die Verantwortung tragen. Nicht weil uns G”tt bestraft, sondern weil das wie ein Naturgesetz ist. Wenn Eltern ihren Kindern verbieten auf einen hohen Baum zu klettern, weil sie absehen können, dass die Kinder herunterfallen und sich schwer verletzen könnten, und ein Kind, die Warnungen der Eltern mißachtend, trotzdem auf den Baum klettert, herunterfällt und sich schwer verletzt, war das keine Bestrafung durch die Eltern, sondern das direkte Resultat der Kletteraktion des Kindes!
Und so wie Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder fallen und sich verletzen, so will auch der Liebe G-tt nicht, dass wir uns durch unser Verhalten und unsere Taten Schaden zufügen. Und so wie unsere Vorfahren vor ihrer Einwanderung nach Israel noch einmal ermahnt wurden die Bundestreue zu halten, so werden auch wir in diesen Wochen vor Rosch HaSchana und Jom Kippur wieder daran erinnert: “Re’eh“, für Euch!