Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg besuchte der einst erfolgreiche General Lee des konföderierten Heeres den Bundesstaat Kentucky. Dort traf er eine Frau, die ihm die Überbleibsel eines früher wunderschönen, mächtigen Baumes zeigte. Die Frau erklärte unter bitteren Tränen, wie die Äste und sogar der Stamm des Baumes durch Artilleriefeuer der Unions-Truppen völlig zerstört wurden. Sie schaute Lee an, in der Hoffnung eine Verurteilung des Nordens zu hören, oder wenigstens Anteilnahme für ihren Verlust zu erfahren. Nach kurzem Schweigen aber antwortete Lee: „Fällen Sie ihn, meine liebe Frau, und vergessen Sie ihn. Es ist besser, die Ungerechtigkeit der Vergangenheit zu vergessen und vergeben, als ihr zu erlauben, sich tiefer einzuwurzeln und das ganze weitere Leben zu vergiften.“ (aus: Lee – The Last Years von Charles Bracelen Flood)
Jeder, der eine Synagoge an den Hohen Feiertagen besucht – auch wenn das sein einziger Synagogenbesuch im ganzen Jahr ist – kann nicht verhindern, vom Gebet, von den Gesängen, von der Stimmung berührt oder inspiriert zu werden. Denn sonst würden wir nicht hingehen. Für die einen ist diese Inspiration sehr tiefgehend, ungewöhnlich stark, vielleicht fast überwältigend; für die anderen geht sie weniger tief, nur etwas unter die Oberfläche – aber berührt und inspiriert werden wir alle. Und in so einem Moment entsteht der Wunsch, im nächsten Jahr etwas mehr Jüdisches zu erfahren, jüdischer zu atmen und zu handeln.
Und doch realisieren wir unseren Wunsch, der auch zu anderen Zeiten des Jahres in uns aufkommen kann, kaum oder gar nicht. Warum? Es ist, als ob wir mit unsichtbaren Banden an ein säkulareres Leben gebunden sind. Es ist, als ob diese Banden aus elastischem Material gemacht sind: Immer, wenn wir es schaffen, uns vom fleischlichen, ungeistigen Leben zu entfernen, greifen sie uns und ziehen uns mit größerer Kraft zum Materiellen zurück.
Wir sind keine Engel und deshalb machen wir Fehler, viele Fehler. Manche dieser Fehler können wir, wenn wir offen und ehrlich sind, als Sünden betrachten – Sünden zwischen Mensch und Mitmensch, und Sünden zwischen Mensch und G“tt. Damit uns diese Fehler nicht dauernd wie einen schweren Stein sinken lassen, damit sie uns nicht wie starke Gummibänder in eine falsche Richtung ziehen, und jeglichen geistigen Fortschritt in kürzester Zeit zunichte machen, beten wir einmal im Jahr mehrere Tage lang um Verzeihung, um Befreiung von dieser Last.
Nur – nach der Metapher der obigen Geschichte – ist der „Baum“ nicht der unsere, sondern wir haben ihn beschossen. Und wir können uns nicht selber unsere eigenen Fehler verzeihen. Daher ist es nicht angemessen, zu vergessen, sondern wir müssen um Verzeihung bitten: um die Vergebung unserer Mitmenschen und schließlich um jene von und durch G”tt.
Dem gilt der Brauch, dass wir zu dieser Zeit des Jahres jede und jeden um Verzeihung bitten. Denn G“tt verzeiht zwischenmenschliche Sünden nur, wenn wir zuerst bei den betroffenen Mitmenschen um Verzeihung bitten. Und dazu gehört auch, dass wir vor Rosch haSchana, sowie zwischen Rosch haSchana und Jom Kippur täglich Selichot beten, also Bitten um Verzeihung sprechen.