
Das Rosch ha-Schana-Gebet ─ Bernard Picard (1673-1733)
Gastbeitrag von Shmuel Barzilai, Oberkantor der IKG Wien.
Jeder, der sich ein bisschen in der Welt der jüdischen Melodien auskennt, weiß, dass es keine schöneren Melodien als die für die Rosch Ha-Schana- und Jom Kippur-Gebete gibt. Nicht nur die Worte der Gebete, sondern auch die musikalische Umrahmung und die mystischen Klänge führen dazu, dass diese Gebete einer höheren, g’ttlichen Macht entsprungen zu sein scheinen.
Aus den Melodien der Hohen Feiertage klingen die Stimmen von früheren Generationen heraus, die in Herz und Seele dringen und das Antike an den Melodien bezeugen. Es ist an und für sich schwer festzustellen, aus welcher Zeit diese Melodien genau stammen, sowie auch schwer festzustellen ist, wer die Komponisten waren. Zweifellos sind sie antiken Ursprungs, aber nichtsdestotrotz unveraltet. So wie damals erkennt man auch jetzt in ihnen die Ausdrucksquelle für die Kraft der Hohen Feiertage.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Vorbeters an jenen Tagen ist es, diese Melodien entsprechend musikalisch aufzubauen, und der Gemeinde nicht nur den Text und die Melodie, sondern auch die tiefere Bedeutung darzubieten. Das Singen der Gebete erhebt die Gebete auf eine andere Ebene, und durch diese Melodien werden die Gebete rein und klar. In diesen heiligen Tagen, wo jeder Mensch gerichtet wird, ist es umso wichtiger, dass die Gebete rein und heilig sind.
Einige der berührendsten Gebete werden an Rosch Ha-Schana und Jom Kippur gebetet, unter anderem das berühmte Unetane Tokef, die Malchijot, Sichronot und Schofarot, das Kol Nidrej, der Tempeldienst des Kohen Gadol am Jom Kippur, das We-Chol Ma’aminim, das Awinu Malkenu usw. Natürlich darf auch das Schofar-Blasen, welches eines der wichtigsten Gebote zu Rosch Ha-Schana ist, nicht vergessen werden. Doch möchte ich eine Tefila, ein Gebet, besonders hervorheben: הנני העני ממעש – „Hier bin ich, arm an Handlungen…“ (Im Wiener Machsor zu RH: S.310; zu JK: S.438)
Dieses Gebet ist ein einzigartiges Gebet, denn dies ist eine persönliche Tefilla, die der Kantor alleine spricht, bevor er das Mussaf-Gebet an Rosch HaSchana und Jom Kippur beginnt. Der Kantor bittet ein würdiger Vorbeter und Vertreter der Gemeinde vor G”tt zu sein. Diese Tefilla wird an keinem anderen Feiertag oder Schabbat gesagt und reflektiert die Ernsthaftigkeit dieser Tage. Einerseits wird der Kantor sich seiner großen Verantwortung bewusst, die Gebete der Gemeinde vorzutragen und als „Schaliach“, als Vertreter der Gemeinde, ihre Gebete vor den Ewigen zu bringen. Andererseits weiß er selber nicht, ob er überhaupt würdig ist, als Vertreter der Gemeinde vor dem Ewigen zu dienen. Deshalb fängt er dieses Gebet mit den Worten: „Hier bin ich, arm an Handlungen…“ an, mit welchem er sich seiner Verantwortung bewusst wird und auch Ehrfurcht hat.
Das Gebet geht weiter mit den Worten: „Ich kam, um vor Dich hinzutreten und für Dein Volk Israel zu flehen, das mich geschickt hat, obwohl ich nicht würdig und fähig dazu bin“ – obwohl ich alleine sicher nicht würdig bin, komme ich als Vertreter der Gemeinde, daher richte mich mit ihnen, da sie sicher würdig sind Dein Urteil zu bestehen und sie mich geschickt haben um sie zu vertreten – und daher „nimm mein Gebet an wie das Gebet eines Greises … dessen Lebenswandel rein ist … dessen Stimme angenehm ist, und der die Zuneigung seiner Mitmenschen genießt“. Hier listet der Kantor die eigentlichen Vorgaben für einen Vorbeter auf und bittet den Ewigen, seine Gebete so zu akzeptieren, wie wenn er all diese Voraussetzungen erfüllen würde. Dabei liegt die Betonung nicht nur auf der angenehmen Stimme, sondern auch auf seinem Lebenswandel und den Umgang mit anderen Menschen. Aber der Kantor weiß, dass sogar wenn er alle Vorgaben erfüllen würde, dies vielleicht nicht genug wäre, und er bittet den Ewigen daher, „um aller Gerechten, Frommen, Vollkommenen und Geraden willen“ seine Gebete und die der Gemeinde anzunehmen.
Auch in der Wiederholung des Mussaf-Gebetes spiegelt sich ein ähnlicher Gedanke wider. Dort heißt es: היה עם פיפיות עמך בית ישראל – „Sei mit dem Abgesandten Deines Volkes“ – hier bittet die Gemeinde, dass der Ewige die Worte des Vorbeters (und die ihren) annehmen möge (S. 504 im Wiener Machsor zu Jom Kippur).