
Ausschnitt aus “Juden beten in der Synagoge an Jom Kippur” ─ Maurycy Gottlieb (1856-1879)
Gastbeitrag von Shmuel Barzilai, Oberkantor der IKG Wien.
Jom Kippur, der wichtigste und heiligste Feiertag der Juden, wird am Vorabend mit dem Kol Nidrej eröffnet.
Die Melodie von Kol Nidre ist die beliebteste und bekannteste aller jüdischer Melodien weltweit, und sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie von einem Komponisten mit besonderen Talenten geschaffen wurde. Diese Melodie hat sicher nicht wenig zum Ausmaß der Bekanntheit des Kol Nidrej beigetragen.
Was bewegt die Menschen beim Sprechen dieses Textes, wo es doch am Jom Kippur viele andere gleichwertige und sogar vom Inhalt bedeutungsvollere Gebete gibt? Was ist das Geheimnis dieses Gebetes, wann begann man es zu sagen, woher stammt es und wer schrieb wann die Musik dazu?
Die Komposition
Eigentlich haben wir keine klaren Informationen darüber, wer der Verfasser dieser Melodie ist. Sie erlangte aber weltweite Berühmtheit und initiirte gewissermaßen auch den Anstoß zu einer neuen Denkart in der Welt der Musik. So zum Beispiel Beethoven zu seiner Komposition des Quartetts cis-Moll op. 131, wie auch Max Bruch zu seiner weltberühmten „Kol Nidrej“-Komposition, welche er nach eigenen Angaben von dem Kantor Avraham Lichtenstein gelernt hat. Er schrieb: „Den Kol Nidrej und einige andere Melodien lernte ich in Berlin von einem Bekannten in der Familie Lichtenstein, und obwohl ich protestantischen Glaubens bin, spüre ich die innere Größe und Schönheit, die aus diesen Liedern kommt, und deswegen habe ich sie in meinem Arrangement weitergegeben.“ (M.S. Geschurrt, Sefer Hamoadim, Seite 225).
Heimlicher G”ttesdienst
Eine der berühmtesten Erzählungen, die sich auch auf diese Melodie bezieht, stammt aus der Zeit der „Maranen“. Zur Regierungszeit der Königin Elisabeth von Spanien im Jahre 1498 gab es einen königlichen Finanzminister namens De Silva, der zwar jüdischer Abstammung war, aber zusammen mit anderen Juden gezwungen wurde, dem Glauben abzuschwören (die bereits erwähnten „Maranen“). Während der hohen Feiertage versammelten sich diese „versteckten Juden“ in geheimen Kellern, um ihr Gebet zu verrichten. Plötzlich stürmten die Soldaten der Inquisition herein und nahmen sie gefangen. Unter ihnen befand sich auch der Finanzminister.
Die Königin hörte von dem Vorfall, und da sie den Finanzminister sehr mochte, bat sie beim Bischof für ihn um Gnade vor dem Tod. Der Bischof entsprach ihrem Wunsch und bot dem Mann das Leben an, unter der Bedingung, dass er sich öffentlich zum Christentum bekenne. Der Mann lehnte ab und sprang freiwillig mit dem Satz, dass er als Jude sterben will, ins Feuer.
Zu dieser Zeit lebte auch ein berühmter Komponist namens De Kastillia, ebenfalls Marane, der bei diesem Geschehen dabei war, und die heroische Tat des Verstorbenen für die Nachwelt in einer Melodie eingefangen hat, welche die berühmte Kol Nidrej-Melodie ist.
Die Melodie beginnt in ihrem ersten Teil leise, ergriffen und ganz dem Gebet zugewandt und ändert sich, als die Soldaten plötzlich hereinstürmen und die Leute bei ihrem wichtigsten Gebet festnehmen. Der zweite Teil, als dem Minister die Rückkehr zum Christentum angeboten wird, und er lieber den Freitod wählt, wird dramatischer, kraftvoller, und als man ihm sein Leben schenken will, hat er keine Zweifel mehr und ruft laut das berühmte „Schma Israel“ und springt ins Feuer.
Die frühen Anfänge
Es wird überliefert, dass in den Anfängen das Kol Nidrej überhaupt nicht gesungen wurde. Allerdings soll Rabbi Jakow Möllin (1365-1427), der als „Maharil“ bekannt ist, am Abend des Jom Kippur den Kol Nidrej in verschiedenen Melodien improvisiert haben, damit die Gläubigen Zeit genug haben, sich in der Synagoge zu versammeln.
Ob durch die spanischen Juden oder durch einen anderen begnadeten und besonders einfühlsamen Kantor erschaffen ─ es gibt keinen Zweifel, dass für einen so einfachen Text, eine außergewöhnliche, grenzüberstreitende Melodie geschaffen wurde, die es auch zustande gebracht hat, die Juden in der ganzen Welt zu vereinen.