
Noach, am Vorabend der Sintflut – John Linell (1848)
Von Rabbiner Schlomo Hofmeister
Raschi wirft hierzu die berühmte Frage auf: Was bedeutet, dass Noach in seiner Generation als rechtschaffen galt? Bedeutet das, wie der talmudische Rabbi Jehuda es interpretiert: nur in seiner Generation – also im Vergleich zur Schlechtigkeit und Verkommenheit seiner Mitmenschen war er noch als rechtschaffen zu bezeichnen? Oder so wie Rabbi Nechemija es sieht: trotz seiner Generation – ungeachtet der Schlechtigkeit seiner Zeitgenossen, die sicherlich einen Einfluss auf ihn hatten, blieb er dennoch rechtschaffen? Während Rabbi Jehuda Noachs Verhalten nach absoluten Massstäben misst, beurteilt Rabbi Nechemja ihn gemäss seines Potentials.
Doch in einem Punkt sind sich beide einig: irgend etwas war nicht perfekt, irgend etwas hat gefehlt an Noachs Rechtschaffenheit, denn sonst hätte die Tora ihn einfach, ohne Einschränkungen rechtschaffen gennant.
Können wir an Noachs Verhalten tatsächlich eine Schwäche oder gar einen Fehler erkennen?
Als G”tt den Plan fasste, die Erde zu überfluten und Noach damit beauftragte ein riesiges Schiff auf trockenem Land zu bauen, um sich und seine Familie vor der Sintflut zu retten, gehorchte Noach dem Auftrag G-ttes ohne Widerspruch. In seiner bedingungslosen Ergebenheit, erfüllt von absolutem G-ttvertrauen, zögerte er nicht einen Moment und machte sich sogleich an die schwere Arbeit.
Was ist an Noachs Verhalten auszusetzen? Hat er nicht den Willen G-ttes ohne Wenn und Aber erfüllt?
Erkennbar wird Noachs Fehlverhalten, wenn wir nicht darauf achten, was er wie gemacht hat, sondern vielmehr, darauf was er nicht getan hat.
Nehmen wir zum Vergleich einen anderen uns bekannten Tzaddik: Awraham Awinu. Als HaSchem ihm mitteilte, dass Er die beiden Städte Sedom und Amora und alle ihre Einwohner vernichten wollte, da ihr verbrecherisches und korruptes Verhalten mit dem der Generation Noachs vergleichbar war, begann Awraham Awinu mit G-tt zu verhandeln. In ihrer Verteidigung erbat er G-tt diese beiden Städte und ihre Menschen zu verschonen, wenn es auch nur ein paar wenige gute Menschen unter ihnen gäbe. Die gab es nicht, und so wurden die Städte zerstört, aber Awraham Awinu hatte es dennoch zumindest versucht, sein Bestmöglichstes zu tun, G-tt umzustimmen und diese beiden Städte zu verschonen.
Was tat Noach in einer ähnlichen Situation? Nichts!
Ja, Noach erfültte den g-ttlichen Auftrag und baute 120 Jahre lang an einem Rettungsschiff für sich und seine Familie. Aber weder versuchte er, G-tt von seinem Plan abzubringen, beinahe die gesamte Mensch zu vernichten, noch unternahm er in diesen 120 Jahren irgendetwas, seine Zeitgenossen zu warnen, sie auf den rechten Weg zu führen um dadurch deren Schicksal abzuwenden, obwohl er das nötige Verständnis und Wissen dazu gehabt hätte.
Nichts falsch machen, heisst noch nicht, Gutes tun!
Wie uns der Rambam erklärt, unterteilen sich die 613 Mitzwot der Tora in 365 Verbote und 248 Gebote.
Die 365 Verbote entsprechen den 365 Tagen des Sonnenjahres, denn so wie die Unterteilung des Kalenders dem zeitlichen Raum des Jahres eine Struktur gibt, so geben uns die 365 Verbote einen Rahmen für unser Verhalten – einen Rahmen, den es jedoch zu füllen gilt durch die Erfüllung der 248 Gebote, die den 248 Knochen und Organen des menschlichen Körpers entsprechen.
Entsprechend den Knochen und Organen unseres irdischen Körpers, den wir durch unsere Ernährung erhalten, dient die Befolgung der 248 Gebote der Erhaltung unseres geistigen Körpers – dem Wachstum unserer Neschama. Durch die Befolgung der Gebote bauen wir unseren geistigen Körper, unsere Neschama auf. Jedoch, durch die Übertretung von Verboten fügen wir unserem geistigen Körper Schaden zu.
So wichtig es auch ist, dass wir keine Verbote übertreten, so dürfen wir dennoch nicht vergessen, dass unsere Aufgabe und Verantwortung vor allem darin besteht die Gebote zu erfüllen. Ein jüdisches Leben zu führen bedeutet zu tun, nicht nicht-tun!
Wenn wir uns nur auf Verbote konzentrieren, und selbst wenn wir es schaffen sollten kein einziges Verbot jemals zu übertreten – haben wir immer noch nichts erreicht. Das wäre so, wie wenn ein Bauer den ganzen Tag am Rande seines Feldes sitzen würde und aufpasst, dass niemand auf sein Feld kommt – er auf dem Feld aber überhaupt nichts angepflanzt hat!